Erinnerungen an die Familie aus Pommern-Oma Berta Auguste Herrmann

Von welcher Berta Auguste Herrmann ist hier die Rede?

Von Berta Auguste Herrmann, die 1944 mit ihrem Mann von Pommern in die USA auswanderte (Detroit) oder von ihrer Schwester mit dem gleichen Namen, die 1944 aus Bütow mit ihrer Tochter Helene und ihrer Enkeltochter Marthe nach Berlin floh. Der Vater war nach der Geburt der zweiten Tochter offenbar so aufgeregt und durcheinander, dass er sie beim Standesamt unter dem gleichen Namen wie die erste Tochter eintragen ließ. Um die beiden Mädchen auseinander halten zu können, wurde die eine Auguste und die andere Berta in der Familie genannt. Beide Töchter, sowohl die in Detroit als auch die in Berlin nannten sich später immer Berta Auguste.

Erste Erinnerung von der Enkeltochter Marthe an Oma Berta Auguste Herrmann (Berlin): Eines Tages als sie um die zwanzig war, hätte ein Mann ihr mit dem Finger auf die Schulter getippt: „Dies soll min fru werde“. „Und sie wurde es auch“. ergänzte Oma Berta stolz.
Berta bekam 9 Kinder. Das erste Kind starb, dann folgten 7 Mädchen und ein Junge. Ihr erstes Enkelkind Egon war „unehelich“. Ihre Tochter Friedel lieferte ihren Sohn gleich nach der Geburt bei ihrer Mutter Berta ab, zog in eine andere Stadt und nahm eine Stelle als Apothekenhelferin an. Sie heiratete einen Bäckermeister. Seine Bedingung: keinen Kontakt zum Sohn, niemand dürfe von der unehelichen Geburt erfahren. Sie hielt sich daran. Egon durfte seine leibliche Mutter nie besuchen. Er fuhr später zu ihrer Beerdigung nach Lohne und stellte klar (was niemand in ihrem Umkreis wusste), dass er neben Hartmut, dem leiblichen Sohn aus der Ehe mit dem Bäckermeister, auch ein Sohn von ihr sei.

Berta hat zunächst gemeinsam mit ihrem Mann Eduard, die eigenen 8 Kinder und das Enkelkind Egon großgezogen. Ihr Mann Eduard starb allerdings relativ jung; er wurde nur um die 43 Jahre alt. Der Enkelsohn Egon war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, die jüngste Tochter Ethel einige Jahre älter. Es wurde in der Nachkriegszeit viel über das Leben der Familie in Bütow erzählt, insbesondere über einzelne Familienmitglieder, vor allem die Kinder; aber nie oder selten über Oma Berta-Auguste; wie sie das geschafft haben mochte, alle Kinder z.Teil allein groß zu ziehen, wovon sie und die Kinder gelebt haben, u.s.w. Kein Thema. Bekannt war lediglich, dass Oma Berta ihren Enkel völlig ohne Widerspruch bei sich aufgenommen und großgezogen hat. Es war gar keine Frage für sie.

Marthe, die Enkeltochter von Oma Berta, erinnert sich, dass sie 1944 auf der Flucht nach Berlin neben Oma Berta in einem Zug saß. Ihre Mutter Helene wirbelte vor dem Zug herum und schmiss so viel Hausrat wie möglich in das Abteil, so dass Berta und Marthe schließlich in einem Meer von Betten um sich und anderem Hausrat saßen.

Tochter Helene war mit Fritz Herrmann (gleichen Nachnamens bei der Heirat), verheiratet. Er besaß in der Ebersstraße in Berlin-Schöneberg glücklicherweise eine eigene Wohnung, die mit 142 qm sehr groß war. Dadurch konnten in den nächsten Monaten und Jahren ab 1944 nach allmählichem Ende des zweiten Weltkriegs viele Verwandte aus Pommern dort eine Unterkunft finden: Oma Berta (starb in der Wohnung 15 Jahre später) und Egon (lebte dort ca 10 Jahre), die Schwestern Elke (blieb dort bis zu ihrem Tod mit 89 Jahren) und Gertraude (blieb mindestens 20 Jahre in der Wohnung) und die jüngste Schwester Ethel mit Ehemann Hans und Tochter Bärbel (sie blieben ca 5 Jahre in der Wohnung bis zum Studienabschluss von Hans). Nach dem Tod ihres Mannes und ihres Hundes Sissi zog Jahre später auch noch Hedwig, die älteste Tochter von Berta, mit in die Wohnung und blieb dort bis zu ihrem Tod.

Das gemeinsame Leben in der Wohnung war schwierig, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren und dabei vor allem in den Wintermonaten. Wegen der Kälte in der Wohnung - es gab nicht genügend Kohle um die Öfen zu heizen - versammelten sich manchmal mehr als zehn Personen im kleinen Zimmer der Wohnung, bei Notbeleuchtung.

Oma Bertha teilte sich bis zu ihrem Tod (mit 80 Jahren) ein Zimmer mit ihren Töchtern Elke und Gertraude. Am Fußende im Bett von Elke lag täglich Enkeltochter Marthe, lauschte den Gesprächen der Tanten und machte ihre Schularbeiten.

Enkeltochter Marthe konnte sich später nicht daran erinnern, dass Oma Bertha je in Gegenwart ihrer Töchter etwas gesagt hat, oder dass jemand sie etwas gefragt hätte. Sie lag im Bett oder auf der Coach, völlig still und hörte nur zu. Sie hat auch nie etwas gelesen (vielleicht war sie Analphabetin?). Ihre Tage begannen damit, dass ihre langen Haare von Tochter Helene gekämmt und zu einem Zopf geflochten wurden; wegen des Ziepens floss so manche Träne. Es hat sich in der Familie kaum jemand für Oma Berta interessiert. Alle waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Lediglich ihr Schwiegersohn machte gelegentlich seine Scherzchen mit ihr, was ihr gefiel. Er nannte sie: Berta Ziglaski, geborene Dünnbier, verwitwete Gast.
Ihre Tätigkeiten waren: Tisch decken und abdecken, Geschirr spülen (die Essensreste auf den Tellern hat sie meist vorher aufgegessen), Begleitung von Enkeltochter Marthe, z.B. zu Bekannten oder in einen Park.

Dabei unterlief ihr eines Tages ein „schwerwiegender“ Fehler. Das einzige Mal, dass Enkeltochter sie als etwas störrisch erlebt hat. Sie beharrte gegenüber Marthe darauf in die falsche Straßenbahn einzusteigen. Falsche Richtung; sie fuhren bis zur Endstation und dann wieder den ganzen Weg zurück und einige Stationen weiter bis zur richtigen Zielstation. Marthe machte zuhause ´ne große Story draus, unnötigerweise. „ Sie hätte immer wieder darauf hingewiesen“, “Oma hätte nicht auf sie gehört“. Damit war Bertas „Karriere“ als Kindermädchen für alle Zeit beendet. Die pommersche Familie war immer sehr streng. Fehler wurden nicht geduldet.

Die Aufgabe der Kinderbetreuung übernahm danach Enkelsohn Egon, der zehn Jahre älter als Marthe war, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt damals. Er ging gerne mit ihr ins Kino. Der erste Film hieß: Die Göttin des Rio Beni. War von tiefgreifender Wirkung auf Marthes Leben, die Flüsse Südamerikas faszinierten sie ein Leben lang. „Einmal den Rio (Beni oder Amazonas oder Grande oder San Franzisko, je nach dem) sehen und dann sterben“. Der zweite Film war: Verschwörung im Nordexpress. Der dritte Film war ein Unterwasserfilm, bei dem wurde Marthe schwindlig. Oma Berta ging gerne entweder mit Marthe oder allein in den Stadtpark oder in die Grünanlage in der Hauptstraße in Schöneberg. Dort erzählte sie stolz, sie hätte sieben Töchter. Welch ein Glück. Alle noch am Leben. Wie viele Mütter hätten den Tod ihrer Söhne zu beklagen, von denen viele im Krieg gefallen seien.

Dann wurde Oma krank. Rheuma. Hatte täglich große Schmerzen. Konnte kaum noch laufen. Saß täglich nur noch am Fenster und blickte raus auf die Straße. Wenn es ihr einigermaßen gut ging, sang sie Lieder: „Siehst du wohl da kimmt er, lange Schritte nimmt er. Siehst du wohl da kimmt er schon der versoffene Schwiegersohn“, oder: „Der treue Husar“, oder: Mariechen saß weinend im Garten“. Von ihren Sprüchen in plattdeutsch konnte sich Marthe noch an folgenden erinnern: „Wenn hi ein Pott med Bohnen steit und do ein Pott med Brüh, do loss ik Pott med Bohnen stein un danz med min Marie…… # Mit fortgeschrittenem Alter nahmen ihre Rheumaschmerzen zu. Sie war oft sehr unglücklich darüber, wollte deshalb sterben. Oft wiederholte sich das gleiche Ritual. Wenn Oma sagte, sie wollte sterben, rannte Marthe in die Küche. Tat Puderzucker auf einen Löffel und sagte: „Komm iss, dann bist du weg“. Oma wollte nicht. Wenn Oma sagte, ich will auf den Friedhof“ rannte Marthe in den Flur und holte ihren Mantel. „Komm Oma wir gehen zum Friedhof.“

Eines Nachts gab es ein leises Blub. Und Oma war weg. Wenigstens ein schmerzloser, fast unbemerkter Tod. Berta war ihr Leben lang gutmütig, geduldig, nie ein aggressives Wort, still, lieb und fleißig. Also alles wo man/frau sagte : lieb und dumm eben.
Niemand in der Familie interessierte sich sonderlich für sie oder nahm an ihrem Schicksal Anteil. Außer Egon. Marthe war erstaunt, dass er bei ihrer Beerdigung so herzzerreißend weinte. Wenigstens er wusste, was und wieviel sie für ihn getan hatte. Sie war seine „wirkliche“ Mutter. Was wäre aus ihm geworden, wenn…