Kurzgeschichten

Hier sind meine Kurzgechichten:

Gertraude war Anfang Zwanzig als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Elke 1945 aus Bütow Pommern Richtung Berlin zu ihrer Schwester Helene flohen. Zu Fuß. War für beide eine einzige Qual. Die Flucht dauerte rund drei Monate. Sie haben später nur selten über diese Flucht gesprochen. Sie haben beide versucht, diesen Alptraum rasch zu vergessen.

Immerhin gelang es den beiden Schwestern auf der Flucht einer Vergewaltigung durch Russen zu entgehen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, auch aus der eigenen Familie. Eine Schwester von Oma Berta Auguste z.B. wurde nach einer Vergewaltigung schwanger. Ihr Sohn blieb ein Leben lang ein Außenseiter, eingeschüchtert und hilflos an seine Mutter geklammert. Nicht zuletzt weil er wegen seiner roten krausen Haare und seiner runden Gesichtskonturen als Abkömmling eines asiatischen Russen leicht erkennbar war und daher von seiner Umwelt abgelehnt und bespöttelt wurde. Eine Tochter der Schwester knapp zwanzig Jahre alt wurde vergewaltigt und verstarb kurz danach, vermutlich ist sie verblutet.

Gertraude und Elke erzählten später, sie hätten sich oft die Gesichter mit Modder, Dreck oder Asche eingerieben, und sich wie alte Weiber auf dem Boden oder in Raumecken hingekauerten, um einer Vergewaltigung zu entgehen. Erfolgreich. Eine andere Geschichte gab es in zwei Versionen. Ein Russe hätte sich einmal Gertraude dreist genähert. Sie gab ihm daraufhin eine Ohrfeige. Er wäre total erstarrt gewesen. Es passierte aber nichts. Diese Version wurde mit einem gewissen Stolz auf Gertraude erzählt, ihr Mut stieß in der Familie auf große Bewunderung. Jahrzehnte später kam von einer anderen Verwandten eine andere Version auf. Der Russe hätte zurückgeschlagen und ihr das Nasenbein gebrochen. Diese Geschichte glaubte Marthe zunächst nicht, allerdings hatte Gertraude immer eine leicht näselnde Stimme, vielleicht ein Tatbestand der doch für die zweite Version sprach.

Die beiden aus ihrer Heimat Pommern vertriebenen Schwestern hatten Ende des zweiten Weltkrieges insofern noch Glück als sie in der Wohnung ihrer Schwester Helene in Berlin zusammen mit ihrer Mutter Berta eine Bleibe fanden. Sie teilten sich ein Zimmer. Gertraude lebte noch rund zwanzig Jahre in dieser Wohnung, Berta rund 15 Jahre ( bis zu ihrem Tod) und Elke mehr als sechzig Jahre bis zu ihrem Tod im 89. Lebensjahr.

Gertraude fand bald nach Kriegsende eine Anstellung bei einem Zahnarzt als Zahnarzthelferin. Bezog ein sehr kleines Gehalt. (Merkwürdigerweise äußerte sie sich immer abfällig über Gewerkschaften). In der Zeit bevor sie aus Bütow vertrieben wurde, war sie noch so gut wie verlobt gewesen. Wie sie später erfuhr, war ihr Freund aber im Krieg gefallen. Sie blieb unverheiratet. Als unverheiratete Frau war sie in der Nachkriegszeit oft irgendwelchen Henseleien und Beleidigungen ausgesetzt.

Es gab für sie angesichts der beengten Wohnverhältnisse kaum die Möglichkeit fremden Besuch zu empfangen. Und wenn nur unter extrem erschwerten Bedingungen. Die Neugierde aller Familienmitglieder war groß. Henseleien über ihre „Verehrer“ an der Tagesordnung. Ihr Freund Lami wurde in der Familie beispielsweise nur “Salami“ genannt. und da waren ja noch ihre beiden Nichten in der Wohnung, die ständig rumalberten, durchs Schlüsselloch oder einen Türspalt lugten oder an der Tür lauschten.

Schlimmer war aber noch, dass die übrigen Familienmitglieder ziemlich instinkt- und herzlos, vorgeblich natürlich nur besorgt und in helfender Absicht, Gertraudes Verehrer mutwillig zu vergraulen suchten. Erfolgreich. Bei Schwester Elke noch nachvollziehbar. Nachdem ihre Ehe kurz nach Kriegsende gescheitert war und sie sich nun einsam und verlassen fühlte, fürchtete sie, sie könnte nun auch noch ihre Schwester Gertraude, mit der sie sich gut verstand, an „einen Mann verlieren“. Eigentlich wurde über alle „Verehrer“ von Gertraude hergezogen. Und natürlich war ja klar: „Der meint es doch gar nicht ernst. Der veräppelt dich doch nur. Der lässt sich doch nie und nimmer scheiden wie er behauptet und heiratet dich“. Leider war Gertraude eigentlich immer geneigt, den Worten und Einflüsterungen ihrer Schwestern zu glauben, mehr als ihrem eigenen Urteil und den Aussagen und Worten ihrer Freunde. Sie trennte sich daher meist nach kurzer Zeit von ihren „Verehrern“ und potentiellen Heiratsanwärtern (In der damaligen Zeit war für die Mädchen/Frauen aus Pommern eine Heirat das wichtigste Ziel). Herr Lami war über die Trennung so erbost, dass er Jahre später bei ihr auftauchte. Er zeigte ihr die Scheidungsurkunde (von seiner ersten Frau). Und teilte ihr mit, dass er längst wieder mit einer anderen Frau verheiratet sei.

Vielleicht hat Gertraude aus diesen Erlebnissen dazu gelernt. Sie machte Mitte vierzig eine Aus- oder Fortbildung als zahnmedizinische Fachangestellte Die anstrengenden Prüfungen haben sie zwar ziemlich mitgenommen, es hat sich aber für sie gelohnt. Sie fand danach eine gut bezahlte Anstellung in einer Zahnklinik. Sie tat sich danach mit einem rund zwanzig Jahre jüngeren Mann zusammen und zog mit ihm in eine gemeinsame Wohnung. In der damaligen Zeit äußerst ungewöhnlich. Mutig, mutig. Marthe gestand sich ein, dass sie selber sich das nicht getraut hätte. Jedenfalls wurde Gertraude danach nicht mehr durch Henseleien von der Familie gequält.

Gertraude spielte viel Lotto. Dabei gewann sie unter dem Namen ihres Freundes einmal über 300 000 DM. Sie teilten sich das Geld. Nach 12 oder 13 Jahren des Zusammenlebens wurde ihr Freund schwer krank. Im Krankenhaus erholte er sich zunächst recht gut. Einen Tag vor seinem Tod hatte sie ihn noch besucht, sie haben sich angeregt miteinander unterhalten und einige Pläne für die Zukunft gemacht (Reisen). Am nächsten Tag erhielt sie die Nachricht, dass er im Krankenhaus überraschend verstorben sei. Die Familie war einigermaßen geschockt. Sein Tod kam für sie überraschend und unerwartet. Niemand stellte über die Ursache für seinen plötzlichen Tod Nachforschungen an, Gertraude und ihre Schwestern waren wie gelähmt. Er war erst Mitte 30.

Er hatte bei seinem Tod auf seinem Konto noch Geld vom Lottogewinn. Es wurde gemunkelt, dass Gertraude dieses Geld erhalten hat. Zu dieser Geschichte gab es mehrere Versionen. Einmal hieß es, sie hätte eine Vollmacht für sein Konto über den Tod hinaus gehabt. Ein anderes Mal hieß es, der Ehemann von Helene, der bei einer Bank beschäftigt war, hätte die Überweisung des Geldes veranlasst und auf den Tag vor seinem Tod vordatiert. Auch wenn die zweite Version einigermaßen abenteuerlich und (allein schon technisch) unwahrscheinlich klang, zumal Marthe ihren Vater immer als total korrekt kannte, hätte Marthe sich unter den damaligen besonderen Umständen gefreut, wenn die zweite Version der Wahrheit entsprochen hätte. Darüber wurde in der Familie aber immer geschwiegen.

Die Reste vom Lottogewinn erlaubten es Gertraude nach dem Tod ihres Freundes jedes Jahr für einen Monat nach Rio zu ihrer Schwester Anni zu fahren. 13 Jahre lang. Dort fand sie endlich die Anerkennung, die sie bei ihrer Familie in Berlin nicht fand. War allerdings nicht ganz billig. Abgesehen von den Reisekosten gab sie ihrer Schwester für jeden Aufenthalt eine beträchtliche Summe an Geld. Ihre Reise nach Rio war manchmal aber auch hoch riskant, wenn man/frau den wilden storys darüber Glauben schenken konnte. So transferierte Gertraude angeblich einige Male für ihren Schwager (Ehemann von Schwester Anni) Geld nach Rio, das sie jeweils vorher von seinem deutschen Konto abgehoben hatte. Sie wickelte sich das Geld um den Bauch, behauptete am Flughafen sie wäre krank. Ließs sich von einem Krankenwagen vom Flugzeug abholen, nur um der Körpervisite des Zolls zu entgehen. Ziemlich wagemutig. Aber auch sehr leichtsinnig, wenn es denn überhaupt so stimmte und die Erzählung nicht reichlich übertrieben war. Fraglich ob die Bewunderung, die sie von der brasilianischen Familie dafür erfuhr, es die damit verbundenen Risiken Wert war.

In ihrem letzten Lebensjahrzehnt engagierte sich Gertraude ehrenamtlich im Vorstand des Bütower Heimatvereins, wie immer aktiv, passioniert und unermütlich. Angeblich war sie auch bis zu ihrem Tod glücklich mit einem anderen Mitglied des Vereins verbandelt. Sie verstarb in Berlin im Alter von 86 Jahren, ihre Schwester Ethel, die in den letzten Stunden ihres Lebens bei ihr war, berichtete sie sei bis zuletzt sehr gefasst, beinahe gut gelaunt gewesen.

Von welcher Berta Auguste Herrmann ist hier die Rede?

Von Berta Auguste Herrmann, die 1944 mit ihrem Mann von Pommern in die USA auswanderte (Detroit) oder von ihrer Schwester mit dem gleichen Namen, die 1944 aus Bütow mit ihrer Tochter Helene und ihrer Enkeltochter Marthe nach Berlin floh. Der Vater war nach der Geburt der zweiten Tochter offenbar so aufgeregt und durcheinander, dass er sie beim Standesamt unter dem gleichen Namen wie die erste Tochter eintragen ließ. Um die beiden Mädchen auseinander halten zu können, wurde die eine Auguste und die andere Berta in der Familie genannt. Beide Töchter, sowohl die in Detroit als auch die in Berlin nannten sich später immer Berta Auguste.

Erste Erinnerung von der Enkeltochter Marthe an Oma Berta Auguste Herrmann (Berlin): Eines Tages als sie um die zwanzig war, hätte ein Mann ihr mit dem Finger auf die Schulter getippt: „Dies soll min fru werde“. „Und sie wurde es auch“. ergänzte Oma Berta stolz.
Berta bekam 9 Kinder. Das erste Kind starb, dann folgten 7 Mädchen und ein Junge. Ihr erstes Enkelkind Egon war „unehelich“. Ihre Tochter Friedel lieferte ihren Sohn gleich nach der Geburt bei ihrer Mutter Berta ab, zog in eine andere Stadt und nahm eine Stelle als Apothekenhelferin an. Sie heiratete einen Bäckermeister. Seine Bedingung: keinen Kontakt zum Sohn, niemand dürfe von der unehelichen Geburt erfahren. Sie hielt sich daran. Egon durfte seine leibliche Mutter nie besuchen. Er fuhr später zu ihrer Beerdigung nach Lohne und stellte klar (was niemand in ihrem Umkreis wusste), dass er neben Hartmut, dem leiblichen Sohn aus der Ehe mit dem Bäckermeister, auch ein Sohn von ihr sei.

Berta hat zunächst gemeinsam mit ihrem Mann Eduard, die eigenen 8 Kinder und das Enkelkind Egon großgezogen. Ihr Mann Eduard starb allerdings relativ jung; er wurde nur um die 43 Jahre alt. Der Enkelsohn Egon war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, die jüngste Tochter Ethel einige Jahre älter. Es wurde in der Nachkriegszeit viel über das Leben der Familie in Bütow erzählt, insbesondere über einzelne Familienmitglieder, vor allem die Kinder; aber nie oder selten über Oma Berta-Auguste; wie sie das geschafft haben mochte, alle Kinder z.Teil allein groß zu ziehen, wovon sie und die Kinder gelebt haben, u.s.w. Kein Thema. Bekannt war lediglich, dass Oma Berta ihren Enkel völlig ohne Widerspruch bei sich aufgenommen und großgezogen hat. Es war gar keine Frage für sie.

Marthe, die Enkeltochter von Oma Berta, erinnert sich, dass sie 1944 auf der Flucht nach Berlin neben Oma Berta in einem Zug saß. Ihre Mutter Helene wirbelte vor dem Zug herum und schmiss so viel Hausrat wie möglich in das Abteil, so dass Berta und Marthe schließlich in einem Meer von Betten um sich und anderem Hausrat saßen.

Tochter Helene war mit Fritz Herrmann (gleichen Nachnamens bei der Heirat), verheiratet. Er besaß in der Ebersstraße in Berlin-Schöneberg glücklicherweise eine eigene Wohnung, die mit 142 qm sehr groß war. Dadurch konnten in den nächsten Monaten und Jahren ab 1944 nach allmählichem Ende des zweiten Weltkriegs viele Verwandte aus Pommern dort eine Unterkunft finden: Oma Berta (starb in der Wohnung 15 Jahre später) und Egon (lebte dort ca 10 Jahre), die Schwestern Elke (blieb dort bis zu ihrem Tod mit 89 Jahren) und Gertraude (blieb mindestens 20 Jahre in der Wohnung) und die jüngste Schwester Ethel mit Ehemann Hans und Tochter Bärbel (sie blieben ca 5 Jahre in der Wohnung bis zum Studienabschluss von Hans). Nach dem Tod ihres Mannes und ihres Hundes Sissi zog Jahre später auch noch Hedwig, die älteste Tochter von Berta, mit in die Wohnung und blieb dort bis zu ihrem Tod.

Das gemeinsame Leben in der Wohnung war schwierig, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren und dabei vor allem in den Wintermonaten. Wegen der Kälte in der Wohnung - es gab nicht genügend Kohle um die Öfen zu heizen - versammelten sich manchmal mehr als zehn Personen im kleinen Zimmer der Wohnung, bei Notbeleuchtung.

Oma Bertha teilte sich bis zu ihrem Tod (mit 80 Jahren) ein Zimmer mit ihren Töchtern Elke und Gertraude. Am Fußende im Bett von Elke lag täglich Enkeltochter Marthe, lauschte den Gesprächen der Tanten und machte ihre Schularbeiten.

Enkeltochter Marthe konnte sich später nicht daran erinnern, dass Oma Bertha je in Gegenwart ihrer Töchter etwas gesagt hat, oder dass jemand sie etwas gefragt hätte. Sie lag im Bett oder auf der Coach, völlig still und hörte nur zu. Sie hat auch nie etwas gelesen (vielleicht war sie Analphabetin?). Ihre Tage begannen damit, dass ihre langen Haare von Tochter Helene gekämmt und zu einem Zopf geflochten wurden; wegen des Ziepens floss so manche Träne. Es hat sich in der Familie kaum jemand für Oma Berta interessiert. Alle waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Lediglich ihr Schwiegersohn machte gelegentlich seine Scherzchen mit ihr, was ihr gefiel. Er nannte sie: Berta Ziglaski, geborene Dünnbier, verwitwete Gast.
Ihre Tätigkeiten waren: Tisch decken und abdecken, Geschirr spülen (die Essensreste auf den Tellern hat sie meist vorher aufgegessen), Begleitung von Enkeltochter Marthe, z.B. zu Bekannten oder in einen Park.

Dabei unterlief ihr eines Tages ein „schwerwiegender“ Fehler. Das einzige Mal, dass Enkeltochter sie als etwas störrisch erlebt hat. Sie beharrte gegenüber Marthe darauf in die falsche Straßenbahn einzusteigen. Falsche Richtung; sie fuhren bis zur Endstation und dann wieder den ganzen Weg zurück und einige Stationen weiter bis zur richtigen Zielstation. Marthe machte zuhause ´ne große Story draus, unnötigerweise. „ Sie hätte immer wieder darauf hingewiesen“, “Oma hätte nicht auf sie gehört“. Damit war Bertas „Karriere“ als Kindermädchen für alle Zeit beendet. Die pommersche Familie war immer sehr streng. Fehler wurden nicht geduldet.

Die Aufgabe der Kinderbetreuung übernahm danach Enkelsohn Egon, der zehn Jahre älter als Marthe war, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt damals. Er ging gerne mit ihr ins Kino. Der erste Film hieß: Die Göttin des Rio Beni. War von tiefgreifender Wirkung auf Marthes Leben, die Flüsse Südamerikas faszinierten sie ein Leben lang. „Einmal den Rio (Beni oder Amazonas oder Grande oder San Franzisko, je nach dem) sehen und dann sterben“. Der zweite Film war: Verschwörung im Nordexpress. Der dritte Film war ein Unterwasserfilm, bei dem wurde Marthe schwindlig. Oma Berta ging gerne entweder mit Marthe oder allein in den Stadtpark oder in die Grünanlage in der Hauptstraße in Schöneberg. Dort erzählte sie stolz, sie hätte sieben Töchter. Welch ein Glück. Alle noch am Leben. Wie viele Mütter hätten den Tod ihrer Söhne zu beklagen, von denen viele im Krieg gefallen seien.

Dann wurde Oma krank. Rheuma. Hatte täglich große Schmerzen. Konnte kaum noch laufen. Saß täglich nur noch am Fenster und blickte raus auf die Straße. Wenn es ihr einigermaßen gut ging, sang sie Lieder: „Siehst du wohl da kimmt er, lange Schritte nimmt er. Siehst du wohl da kimmt er schon der versoffene Schwiegersohn“, oder: „Der treue Husar“, oder: Mariechen saß weinend im Garten“. Von ihren Sprüchen in plattdeutsch konnte sich Marthe noch an folgenden erinnern: „Wenn hi ein Pott med Bohnen steit und do ein Pott med Brüh, do loss ik Pott med Bohnen stein un danz med min Marie…… # Mit fortgeschrittenem Alter nahmen ihre Rheumaschmerzen zu. Sie war oft sehr unglücklich darüber, wollte deshalb sterben. Oft wiederholte sich das gleiche Ritual. Wenn Oma sagte, sie wollte sterben, rannte Marthe in die Küche. Tat Puderzucker auf einen Löffel und sagte: „Komm iss, dann bist du weg“. Oma wollte nicht. Wenn Oma sagte, ich will auf den Friedhof“ rannte Marthe in den Flur und holte ihren Mantel. „Komm Oma wir gehen zum Friedhof.“

Eines Nachts gab es ein leises Blub. Und Oma war weg. Wenigstens ein schmerzloser, fast unbemerkter Tod. Berta war ihr Leben lang gutmütig, geduldig, nie ein aggressives Wort, still, lieb und fleißig. Also alles wo man/frau sagte : lieb und dumm eben.
Niemand in der Familie interessierte sich sonderlich für sie oder nahm an ihrem Schicksal Anteil. Außer Egon. Marthe war erstaunt, dass er bei ihrer Beerdigung so herzzerreißend weinte. Wenigstens er wusste, was und wieviel sie für ihn getan hatte. Sie war seine „wirkliche“ Mutter. Was wäre aus ihm geworden, wenn…

Bewegtes aus dem Leben von Rhea Gilder Das Eintauchen in den fremden Kulturkreis des Orients bedeutete für Rhea Gilder mit ihren Worten das „Abenteuer pur“. Es war das Jahr 1963. Rhea war damals gerade zweiundzwanzig Jahre alt. Nach dem mehrsemestrigen Studium politischer und sozialer Wissenschaften sowie islamischer Kunst und Geschichte an der Universität Hamburg, einigen Vorlesungen an der Katholischen Universität (KU) in Leuven in Belgien in „sciences po“ und einer Volontärzeit bei einer Hamburger Tageszeitung bekam sie von der politischen Redaktion ihrer Zeitung den Auftrag als Berichterstatterin im Libanon tätig zu werden. Begeistert und unerschrocken machte sie sich sofort auf den Weg nach Beirut. Das Land, insbesondere das pulsierende Leben in Beirut, gefiel ihr auf Anhieb so gut, dass sie sich wenige Wochen nach ihrer Ankunft an der berühmten libanesischen Jesuitenuniversität St. Joseph in Beirut, einer „Schwester-universität“ der KU-Leuven, einschreiben ließ mit dem Berufsziel Journalistik. Mit dem Kennenlernen ihres späteren Ehemannes erfolgte schließlich ein tiefgreifender Bruch in ihrem Lebensszenario. Es hat mich immer fasziniert, wie sie es geschafft hat quasi von heute auf morgen die Zelte aus einem anscheinend glücklichen und erfolgreichen Leben in der westlichen Welt abzubrechen, um in eine vollkommen fremde Welt des Orients einzutauchen. Welcher Mut und welche Entschlossenheit müssen hierfür notwendig gewesen sein! Ihr arabischer Freund und späterer Ehemann war ein in Jerusalem gebürtiger Palästinenser, stammte aus einer reichen Jerusalemer Kaufmannsfamilie und gehörte der griechisch-orthodoxen Kirche an. Als sie ihn kennenlernte war er bereits libanesischer Staatsbürger und hatte sich im Libanon ein erfolgreiches Bauunternehmen aufgebaut. Die Ehe mit ihm bot ihr zweifellos einen gewissen Schutz in einer libanesischen Clangesellschaft, den sie als alleingestellte junge Ausländerin nicht gehabt hätte, wenn sie denn die Absicht gehabt hätte ihr Leben im Libanon zu verbringen. Allerdings war das Leben mit ihm im Libanon von Anfang an nicht einfach. Weniger wegen kultureller oder religiöser Differenzen zwischen ihr und ihrem Mann selber. Problematisch waren seine kulturell und religiöse Zugehörigkeit, die sie zu einer bevölkerungsmäßigen Minderheit im Libanon machten. Das bekam sie in Zeiten der Bürgerkriege im Libanon, die um ca 1975 begannen, mehr als deutlich zu spüren.

Aber zunächst verliefen die ersten Jahre ihres Lebens im Libanon noch weitgehend in Ruhe und traditionellen Bahnen. Ihr Mann war als erfolgreicher Bauunternehmer tätig, wodurch sie in einem gewissen Wohlstand lebten. Rhea bekam in kurzen Abständen drei Kinder, mit denen sie zunächst alle Hände voll zu tun hatte. Bald nahm sie allerdings freiberuflich eine Tätigkeit als Redakteurin für ein Wochenmagazin auf, betätigte sich ehrenamtlich in diversen Vereinen und gründete schließlich eine Vereinigung deutschsprachiger Frauen im Libanon.
Die religiösen Differenzen im Land mündeten schließlich in den zunehmenden Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die gegenseitige Metzeleien, Morde, Plündern und Brandschatzen zur Folge hatten. Sie waren vor allem für religiöse Minderheiten, der ja Rheas Mann als gebürtiger Palästinenser im Libanon angehörte, bedrohlich, auch wenn er aus freien Stücken in den Libanon ausgewandert war und kein Muslime war. Der anfängliche palästinensische Widerstand auf libanesischem Boden gegen die Bedrohung durch das Militär ihres Gastlandes wurde im Jahr 1982 endgültig erstickt als etwa 150 libanesische Milizionäre die palästinensischen Flüchtlingslager im südlichen Stadtgebiet von Beirut stürmten und Hunderte bis Tausende von palästinensischen Flüchtlingen, meist Zivilisten, verstümmelten, vergewaltigten oder töteten (bekannt als Massaker von Sabra und Schatila). Wer sich auf eigene Faust in Sicherheit bringen wollte wurde oftmals Opfer einer zunehmend hasserfüllten libanesischen Bevölkerung. Rhea trat die Flucht mit ihrem Mann und den Kindern ins Ausland an als zum wiederholten Male ein Bombenhagel in verschiedenen Wohnvierteln begann und ein deutscher Nachbar vom Balkon geschossen wurde. Auf einem Frachtschiff gelang ihnen die Flucht aus dem nördlichen Tripoli hin zum saudischen Djiddah. Ihr Mann konnte dort bald Fuß fassen und siedelte sein Bauunternehmen zumindest vorübergehend dorthin um. Eine kurze Pause in den Bürgerkriegswirren erschien Rheas Mann irrtümlich als Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen, so dass es ihn mit Familie zurück nach Beirut zog. Von da an begann für Rheas Familie eine fast jährliche Pendelei zwischen Beirut, Djiddah und Deutschland, die zeitweilig sogar die vorübergehende Unterbringung ihrer drei Kinder in einem Internat erforderte. Da sie ihre Kinder dort nur selten besuchen konnte, zeitweilig hatte sie sogar Hausverbot, da sie angeblich ihre Kinder zu sehr mit Geschenken verwöhnte, war das Leben für sie in dieser Zeit eine einzige Katastrophe. Die folgende Bürgerkriegsperiode war insgesamt durch eine ganze Reihe dramatischer und unmittelbar lebensgefährlicher Situationen für sie und ihre Familie gekennzeichnet. Einem Beschuss durch Raketen entkam sie z.B. knapp durch Zufall. An jedem Checkpoint erwies sich der libanesische Pass ihres Mannes durch die Eintragung seines Geburtsortes Jerusalem von diskriminierender Wirkung.
1983 erschien schließlich Rhea eine zunächst als vorläufig geplante Rückkehr nach Deutschland in ihre Heimat unumgänglich. Damit begann für sie teilweise über Jahrzehnte hinaus ein vielseitiges Spektrum an journalistischen, politischen und ehrenamtlichen Aktivitäten. Um nur einige Tätigkeits-schwerpunkte zu nennen. Sie heuerte bei verschiedenen Zeitungen sowie beim WDR als freie Mitarbeiterin an. Ihre freiberufliche Tätigkeit als Auslandskorrespondentin und Kriegsberichterstatterin brachte sie in viele interessante Länder des Orients und bescherte ihr zahlreiche Begegnungen mit prominenten arabischen Führern. In ihrer Heimatstadt erhielt sie den Auftrag ein Konzept für eine bessere Integration arabischer Asylbewerber zu entwickeln. Als eine auf fünf Jahre in ihrem Ruhrkreis gewählte Vertreterin einer europäischen Abgeordneten war sie vor allem im Bereich Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik und der Verhinderung von bewaffneten Konflikten tätig, die ihr u.a. auch mannigfaltige Gelegenheiten brachten, sich in die deutschen Friedensbemühungen im Nahen Osten einzubringen. Zum Abbruch ihrer politischen Karriere kam es Mitte bis Ende der neunziger Jahren durch die tragische Erkrankung ihres geliebten Mannes; den jahrelangen unermüdlichen Kampf dagegen verloren sie schließlich Mitte des Jahres 2000 endgültig. In den Jahren danach ist besonders ihre ehrenamtliche Arbeit als Vorsitzende einer Menschenrechtsorganisation, der Internationalen Frauenförderation für Menschlichkeit und Frieden e.V., ihr politisches Engagement für diverse internationale Selbsthilfe-Nichtregierungsorganisationen u.a. mit dem Fokus auf die Verhinderung von Fluchtursachen sowie ihre journalistische und schriftstellerische Arbeit hervorzuheben.

(mit Auszügen aus dem Buch: Eine Kriegsberichterstatterin im Nahen Osten) „Natürlich sind Sie uns auch weiterhin herzlich willkommen“ sagte der Scheich, „aber Sie wären dann genau wie wir in permanenter Lebensgefahr. Machen Sie sich da besser keine Illusionen“. „Wir sind jetzt einmal hier und wir haben schon lange auf die Gelegenheit gewartet, die Kampfeinsätze der Hisbollahs im libanesischen Grenzgebiet journalistisch zu begleiten und Illusionen hatten wir von Anfang an nicht“, antwortet ihm mein Freund Bob, Chef vom Dienst eines überregionalen arabischen Wochenmagazins.

Dabei bringt er es doch tatsächlich fertig, fast verschlafen auszusehen, obwohl er innerlich schon ganz aufgeregt ist. Klar ist, die Guerillas sind jetzt zu allem entschlossen. Wir befinden uns hier nicht in einer Art touristischem Disneyprogramm in Guerilla Country. Für weitere Überlegungen bleibt keine Zeit mehr. Schon geht es so gebückt wie möglich unter der Führung eines Guerillero einen schmalen Pfad in die Felswand hinauf. Eigentlich sollten wir, eine kleine Gruppe von 5 Personen, einen Abstand von mindestens zehn Meter zwischen uns halten, aber eine offenbar uns allen eigene unbestimmte Angst lässt uns auf wenige Meter voneinander aufschließen.

Ich selbst habe große Mühe mit meinen normalen Straßenschuhen in dem Geröll nicht ins Rutschen zu kommen. Da ich als Erste im Gänsemarsch unserem Guerillero folge, muss er sich mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld seine Geschwindigkeit immer wieder der meinigen anpassen.

Nach etwa vierzig Metern Kletterstrecke verbreitert sich der Pfad und führt in einer scharfen Kurve den Berg hinauf. Er ist hier bewachsen mit einer Ginsterart und dicht eingegrenzt von halbhohen Weißdornbüschen. Und diese retten uns vermutlich das Leben. Denn plötzlich erzittert die Luft von einem ungeheuren Hubschraubergeknatter nicht weit unter uns und wir werfen uns wie auf Kommando in den Schatten dieser Sträucher. Da sind die Hubschrauber schon ganz in unserer Nähe, halten sich erschreckend lange auf unserer Höhe, senken sich dann plötzlich weiter hinab , wodurch wir ihrem Blickwinkel wieder vollständig entzogen sind.
Das war knapp meint mein Freund Bob. Uns ist aber klar, die Gefahr ist noch nicht gebannt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ohne eine ersehnte Pause, die Felsen hinaufzujagen, wo kaum noch ein Strauch uns irgendwelchen Sichtschutz bieten könnte. Nach wenigen Metern lassen wir uns im Schatten hoch aufragender Felswände erschöpft nieder. „Die Hubschrauber der Israelis werden gleich wieder hier sein“, wendet sich unser Guerillero-Wegführer an meinen Freund Bob. Wir können hier nicht bleiben. Es gibt hier nirgends einen Sichtschutz. Sie können uns hier abknallen wie die Hasen, einen nach dem anderen“. In erstaunlicher Eintracht beeilen wir uns nun unter Einsatz aller Kräfte ihm nachzufolgen. Schließlich erreichen wir einen spektakulären Felsdurchgang, dessen glatte Wände sich über uns immer mal wieder dramatisch zusammenschließen. Ich mache im Laufschritt rasch einige Fotos, beeile mich aber dennoch so gut es geht mit der Gruppe Schritt zu halten.

Der Durchgang ist mit mindestens siebenhundert Metern länger als ich erwartet habe. Er ist demnach als Fluchtweg möglicherweise brauchbarer als der Scheich uns hat glauben lassen. Als wir ihm folgen gelangen wir allerdings auf einen warm besonnten Vorplatz, der breit wie eine Hotelterrasse ist und auch als Landeplatz für einen Hubschrauber ausreichen könnte. Hier fühlen wir uns wie auf einem Präsentierteller allen möglichen und unmöglichen Verfolgern schutzlos preisgegeben. Jetzt begreife ich die Nervosität unseres Wegführers, denn von beiden Ausgängen dieses Felsdurchganges her in die Zange der Verfolger genommen, müsste jede Gegenwehr der Guerillas in Schall und Rauch ersticken, allemal wenn solch ein Rauch auch noch chemisch angereichert wäre. Uns ist sofort klar, dass wir hier so schnell wie möglich wegmüssen. Wir verschwenden kaum einen Blick an das beeindruckende Panorama der Landschaft. Der Abstieg auf dem anderen Ende des Felsdurchganges übertrifft unsere Befürchtungen noch und gestaltet sich ungleich mühevoller als der Aufstieg. Wir müssen in der Tat ein jammervolles Bild bieten wie wir da mal rutschend, mal an eben noch rechtzeitig ergriffenen Büschen oder Wurzeln schwingend Halt unter den Füßen suchen, oftmals den Abgrund vor Augen. Immer in Gefahr auf dem rollenden Gestein auszurutschen und dann unweigerlich in die Tiefe zu stürzen haben wir Journalisten genügend Gelegenheit unseren leichtfertigen Entschluss, die Guerillas auf einer ihrer geplanten Kampfaktionen zu begleiten, aus tiefstem Herzen zu bedauern. Tatsächlich sind wir auf diesem Abstiegsgelände allen Blicken sogar vom tiefen Talboden unter uns vollkommen schutzlos ausgesetzt. Niemand von uns scheint sich irgendeinem Trugschluss diesbezüglich hinzugeben. Jeder tut sein Bestes, um so schnell wie möglich auf diesem sperrigen Terrain voranzukommen. Eine einzige Tortur für Rücken und Glieder.

In der Ferne hören wir erneut Hubschraubergeräusch. Aufgeschreckt halten wir kurz inne. Aber es scheint sich eher zu entfernen als näher zu kommen, für den Augenblick jedenfalls. Wie Gejagte verlangen wir uns physische Höchstleistungen ab und schaffen es ohne größere Zwischenfälle tiefer und tiefer den Felshang hinunter, ungeachtet unserer inzwischen arg zerschundenen Hände und Füße.

Plötzlich finden wir uns auf einem kleinen Felsvorsprung wieder, der linkerseits aus einer Vertiefung, einer Felsspalte, herausragt. Aus dem Felseingang winkt uns eine Hand ins Innere. Ich ergreife die Hand und lasse mich hineinziehen. Mich überkommt sogleich ungläubiges Staunen. Ich befinde mich übergangslos in einer riesigen Höhle, die kaum mehr als solche zu bezeichnen ist und eher einer Fabrikhalle gleicht. Überall stehen Anhäufungen von Maschinenanlagen, deren Funktion mir auf Anhieb nicht ersichtlich ist, die aber jeweils umgeben sind von einer Anzahl von Guerilleros, die sie in Gang zu halten scheinen. Einige von ihnen beobachten uns neugierig, andere wiederum scheinen zu beschäftigt zu sein, um uns zu bemerken. Dafür werden wir jetzt von unserem Scheich in Empfang genommen, der uns diesmal so herzlich begrüßt, als ob wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hätten. „Hoffentlich haben Sie uns nicht auf diese Route geschickt, um unseren Durchhaltewillen zu testen?“ frage ich ihn mit unterschwelliger Empörung angesichts seines pieksauberen Habitus. Er blickt mich leicht missbilligend an: „Madame, bei aller Anerkennung für Ihren Durchhaltewillen – aber den Fluchtweg, den ich benutze, kann ich wirklich niemandem preisgeben, der nicht zu unserem harten Kern gehört. Er ist im übrigen nur kürzer, aber nicht weniger gefährlich als der, den Sie hinter sich haben, eher im Gegenteil“. Dabei lacht er breit und freundlich. Ein erstaunlicher Mann, fürwahr!

„Sie müssen sich jetzt entscheiden“, fährt er fort. Es geht um die Teilnahme an einer großen Aktion, deretwegen wir Herrn Bob A. eigentlich auch hergebeten haben: ein Angriff unserer Kamikaze -Einheit auf den Stützpunkt der südlibanesischen Armee Burg Beaufort“. Mir fällt ein: Beaufort ist die gewaltige Ruine einer Kreuzritterburg. Sie diente in den rund 900 Jahren ihrer Existenz wechselnden Kriegsherren als fast uneinnehmbares Refugium und als Ausgangspunkt für zahlreiche epochale Eroberungszüge. „Ich hoffe, Sie wissen worauf Sie sich einlassen bei dieser Beaufort-Aktion. Wir möchten Sie nicht verschrecken, Madame, wir brauchen Leute wie Sie“ meint schließlich der Scheich, nachdem ich meine Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert habe. Kurze Zeit später lädt er mich zu einer Tasse Kaffee in einen abgetrennten Nebenraum ein. Hier befindet sich ein bazarartiges Kampfbekleidungs-und Waffenlager. Während er sich selbst gelenkig auf einem Stapel Decken niederlässt, muss ich, um ihm gegenüber sitzen zu können, auf einer Kiste Platz nehmen, über deren Inhalt ich mich keinem Zweifel hinzugeben brauche. Leider kommen kurze Zeit später vier oder fünf Bewaffnete herein und verlangen seine volle Aufmerksamkeit. Ausgerechnet die Kiste, auf der ich sitze, wird nun gebraucht, und dummerweise kommt mein Aufstehen auch einer momentanen Verabschiedung gleich. Meine Reisegefährten haben sich draußen zusammengefunden und Bob empfängt mich mit patronisierendem Kopfschütteln, auf das ich in der Regel sofort allergisch reagiere. „Ihr seid doch alle gleich, Ihr Ausländer. Kleine Alleingänge zur Sicherung der Exklusivität, wie ?“ Ich ziehe es vor, diesmal mit einer Geste gutmütiger Resignation solchen nicht ungewöhnlichen Vorwürfen der Berufskonkurrenz die Schärfe zu nehmen, ausnahmsweise. „Ein Tässchen Kaffee in Ehren“, spöttle ich ihn an und nehme zugleich wahr, dass ich selbigen gar nicht bekommen habe. „Ich habe den Eindruck, die Jungs besprechen da drinnen Kampfstrategien. Dabei habe ich sie höflich allein gelassen. Schließlich sollen sie nicht den Eindruck haben, ich sei hier als Spitzel unterwegs.“ Bob wirft mir einen zweifenden, jedoch auch amüsierten Blick zu, sagt aber nichts weiter.

Der Scheich kürzt unseren kleinen Disput in diesem Moment eh ab und winkt uns zu sich. Er verteilt Teegläser und macht Anstalten mich in die Planungsbesprechung einzubeziehen.

„Unseren Plan haben wir den Israelis abgeguckt“. Er lächelt verhalten. Deswegen bin ich ziemlich sicher, dass er auch gelingt. Er basiert auf dem Prinzip des Trojanischen Pferdes, das werden Sie ja kennen“, und auf meine erstaunte Reaktion hin feixt er mich fast kumpelhaft an. Sie werden es schon merken, wenn es soweit ist. Auf jeden Fall werden Sie eine aktive Rolle haben bei der Attacke auf Beaufort, wir brauchen Sie als Statisten“.

„Aktive Rolle“. Ein heftiger Schreck durchführt mich sogleich. „Oh Gott, sie haben wohl nicht vor, uns im Bauch einer Attrappe ins feindliche Lager hineinzuschmuggeln?“ frage ich zurück, und es gelingt mir nicht einmal ansatzweise, meinen Vorbehalt mit Ironie zu neutralisieren. Mit schwant nichts Gutes. Bob, der offenbar schon über die geplante Aktion informiert ist, legt seinen Arm fest um meine Schulter, als wolle er mich an weiterem Einspruch hindern, und meint beschwichtigend: „Aber Fahrrad fahren kannst du doch ?“.

Der Plan unserer Involvierung ist dann in der Tat so raffiniert wie gefährlich, widerspricht aber vor allem diametral meinen berufsethischen Grundsätzen, nämlich bei all meinen Reportagen in Krisengebieten immer auf dem Neutralitätsprinzip zu bestehen, es sei denn, dass eine unverzichtbare humanitäre Beteiligung dieses Prinzip außer Kraft setzen würde. Mitgefangen ist mitgehangen, geht es mir durch den Kopf. Für Ausbruchspläne ist es jetzt eh zu spät.

Offenbar hat meine Begeisterung über eine mögliche sensationelle Berichterstattung mich jede Vorsicht und den letzten Fetzen regulären Verstandes vergessen lassen. Und jetzt ist mir richtiggehend übel vor Angst und schlechtem Gewissen. Dennoch hänge ich keine zehn Minuten später angstvoll zwischen Himmel und Erde, als unsere Gruppe den Pfad in der Felsenrille um unseren Felsen herum im Mondschein ertasten muss, um wohl oder übel in die Tiefe zu gelangen. Meine Tasche habe ich zurücklassen müssen, dafür hat man mir zwei flache Rucksäcke übergeschnallt, die bei der Kletterei nicht hinderlich sein würden. Wir hatten uns nicht schwarz bemalen müssen, wofür ich dankbar bin. Allerdings hat man mir halbhohe Turnschuhe verordnet, weil meine Straßenschuhe bei unserer Mission vollkommen deplatziert gewesen wären. Meine kleine Spezialkamera trage ich in einem Brustbeutel sicher am Körper.

Die bergsteigerische Bewältigung unserer Pfadrille war fünf -oder sechshundert Meter lang ein durch die Dunkelheit noch gesteigertes reines Himmelfahrtsunternehmen. Während ich zunehmend am ganzen Körper zu zittern beginne, verkrampfe ich mich bei meinen wahllosen Halteversuchen an Wurzeln und instabilen Felskanten, die unter meinem verzweifelten Griff immer wieder zerbröseln.

Nur dem Druck der Nachfolgenden ist es zu verdanken, dass ich mich ohne Innezuhalten und fast blind durch die Lichtunterschiede weiter und weiter durch die Felsrille taste, rutsche und manchmal in Todesangst fast verzweifeln möchte, wenn noch mal eine Wurzel sich aus dem Geröll löst, an der ich eben mein Leben festmachen wollte. Erst als ich wieder festen Boden unter meinen Füßen spüre, als die Felskante vor dem Abgrund sich verbreitert und sich in niederem Buschwerk verliert, denke ich daran, was der Lohn sein würde für unsere Angst.

Durch eine vom Mondlicht mild beleuchtete felsbewürfelte Landschaft gelangen wir ins Tal, wobei wir darauf achten müssen, keine Pfadspuren zu hinterlassen. Bob bemüht sich ausnahmsweise einmal rührend um seinen kleinen Redaktionssekretär, den die Todesstrecke durch die Felsrille offensichtlich noch mehr geschockt hat als mich, vor allem weil er dabei auch noch seine Brille verloren hat. Es gibt eben immer noch eine Steigerung für Schrecken. Und auch ich habe noch lange nicht mein inneres Zittern verloren.

Schließlich stoßen wir auf zwei Männer in der gelben Uniform der libanesischen Straßenbaubehörde, die sofort mit der Entladung von Mountainbikes-Fahrädern beginnen, sobald sie unser Näherkommen registrieren. Wir steigen auf die uns zugeteilten Fahrräder und folgen der Gruppe, die sich bereits auf den Weg gemacht hat. Als seit Kindheit geübte Radfahrerin macht mir dieser Teil unserer Strecke zunächst richtig Spaß .Aber schon bald geht mir durch den Kopf, welchen Preis ich für dieses Abenteuer werde bezahlen müssen. Denn allein schon diese Fahrradnummer geht über die Grenze objektiver Berichterstattung hinaus. Auch mein deutscher Chief dürfte mit meiner allzu aktiven, wenngleich unfreiwilligen Involvierung hier seine Schwierigkeiten haben. Und bei diesem Gedanken verspüre ich schon wieder dieses innere Zittern.

Über Stock und Stein unter kunstvoller Umgehung kraterähnlicher Schlaglöcher gelangen wir schnell durch das etwa zehn Kilometer weite Tal bis zu einer baumarmen Hügellandschaft mit zumeist halbfertigen Betongebäuden. Unser erstes Etappenziel ist ein solches. Die Guerilleros werden dort zunächst in einen Waschraum gebeten, wo die rituellen Gebetswaschungen vorgenommen werden, nachdem ein Barbier ihnen die zumeist eindrucksvollen Bärte abrasiert hat, damit sie während der Vorbereitung der Kampfhandlungen nicht als Kämpfer identifizierbar sind.

Schließlich gesellt sich ein Mullah zu uns, ein älterer Mann, dessen ungeheuer schwarzer Turban über seinen abstehenden Ohren in Schieflage geraten ist und an einer Seite dichtes weißes Haupthaar freigibt. Der Mullah unterrichtet uns nun darüber, dass noch eine weitere Ausländerin, eine Japanerin zu uns stoßen werde und zwar mit dem Munitionstransport und zwölf weiteren Kämpfern. Schließlich holt er eine Reihe schwarzer Stirnbänder und große Handfahnen in intensiven Rot, Grün- und Gelbtönen mit dem kalligrafischen Emblem der Guerilleros hervor und legt sie vor sich auf eine Matratze. Unvermittelt beginnt er mit näselnder Stimme eine Art Segnungszeremonie, ähnlich der, mit der der Muezzin fünfmal am Tag die Gläubigen vom Turm der Moschee herab zum Gebet ruft. Einer nach dem anderen bewegen sich die Kämpfer auf die Fahnen zu, berühren sie mit der Stirn, indem sie sich darauf niederbeugen und richten sich wieder auf, um die Hand des Geistlichen zu küssen und dann an ihre Stirn und an ihr Herz zu drücken. Jedem Einzelnen legt der Mullah daraufhin das Stirnband an und knüpft es eigens fest.

Gleich darauf hören wir Motorgeräusche und das Zuschlagen von Autotüren. Wir verlassen den Raum um die Neuankömmlinge, unter ihnen eine Japanerin, offenbar eine freiwillige Partisanin, zu begrüßen. Der Anführer der Nachhut erklärt uns in kurzen Zügen den geplanten Ablauf der Kampfhandlungen. Einige von uns, darunter Bob, George und ich werden auf unseren Bikes dem inzwischen mit Sprengstoff gefüllten Kombi folgen, ganz so, als seien wir alle auf einem gemeinsamen trekkingtripp. Gleichzeitig sollen sich Guerillos auf den umliegenden Bergrücken positionieren und bei unserem Näherkommen die Festung von allen Seiten unter Feuer nehmen. In dem Kugelhagel sollen wir auf unseren Rädern verständlicherweise zurückbleiben, während der Fahrer des Kombi bis an den Außenposten der Festung weiterfahren und dort um vermeintlichen Schutz vor den Guerilleros bitten wird. Nach dem Abstellen des Kombiwagens muss er sofort versuchen sich aus der Stacheldrahtumzäunung herauszuretten, weil die Guerillos von ihren umliegenden Stellungen aus das abgestellte Fahrzeug nach wenigen Augenblicken in Brand schießen und damit zur Explosion bringen würden.

In der allgemeinen Verwirrung sollte eine weitere Kampftruppe der Guerillos den Außenposten der Burg erklimmen, alles niedermachen, die Fahnen hissen, etliche Gebäude in die Luft jagen und dann möglichst schnell wieder hinunter zu den vorher in einem Feld verborgenen Fahrrädern gelangen, bevor die Gegenseite Zeit zu reagieren hätte. Alles weitere dann vor allem die Flucht insgesamt läge dann in unser aller persönlichem Ermessen. Einen Sammeltreffpunkt dürfe es aus Sicherheitsgründen nicht geben. „Also wenn das normalerweise der Preis ist für journalistische Frontberichte in diesen Regionen“, beschwere ich mich bei Bob, „ dann wundert es mich nicht, dass wir so selten welche zu sehen kriegen. Unmöglich finde ich vor allem dieser ungeordnete Rückzug, so eine Art letzter Befehl nach dem Motto "Rette sich wer kann". Erst rekrutieren uns die Brüder mehr oder weniger zwangsweise und dann überlassen sie uns der Vorsehung. Und erwarten hinterher eine wohlwollende Berichterstattung. Gefälligst! Das ist Fatalismus in seiner wahrhaft schönsten Form.

Bob scheint leicht zu frieren in der feuchten Morgenluft , denn er schüttelt sich und übt Laufschritt im Stand, hat dabei aber immer noch genug Luft, um mir mal richtig die Meinung zu sagen: „Ihr westlichen Westentaschenjournalisten seid irgendwie falsch gepolt. Ihr seid allzu sanft gebettet auf den Ruhekissen eures Systems. Ihr lobt Euch über den Klee in eigener Sache und euer schläfriges Publikum macht höchstens mal die Augen auf, um mitzujubeln. Dann kommt Ihr hierher, erlebt die Realität, über die ihr zum eigenen Ruhme auch berichten wollt aber dann gefällt Sie euch nicht und Ihr jammert los. Beklagt euch über unsere Prinzipienlosigkeit. Macht es Euch doch zuhause gemütlich bei Euren quotengesicherten Leibrenten und verkauft Euren Lesern oder Zuhörern immer wieder die gleichen traurigen Geschichten aus der Dritten Welt. Da können eure fetten Safarijournalisten Krokodilstränen verströmen über den Hunger in der Welt, ohne dass sie davon im geringsten betroffen sind. Toll!. Ich jedenfalls hab noch keinen von denen mal in die eigene Tasche greifen sehen, um wenigstens den Opfern zu helfen, mit deren Fotos sie hinterher das große Geld machen. Eure Prinzipien sind die der Banken und Versicherungen, mein Mädchen. Lasst uns damit in Ruhe, auf eure zumeist tendenziell gefärbten Berichte können wir hier verzichten.“

Mein beabsichtigter Protest bleibt für den Augenblick in der Luft hängen, denn der Kombifahrer besteigt nun sein Fahrzeug und wir werden aufgefordert unsere Fahrräder zu besteigen und in seinem Windschatten mitzuradeln. Scheinbar gibt jemand der Japanerin den Wink, neben mir zu bleiben, denn sie steigt irgendwann ab um auf mich zu warten und witzelt durchaus wohlwollend über meine mangelnde Kondition, als wir nebeneinander weiterfahren. „Wie sieht denn nun der genaue Plan aus“, frage ich sie. „Ich sehe hier nichts, was uns vor den Ferngläsern der Burgverteidiger verbergen könnte. „Wir wollen gleich an einer ausgemachten Stelle vier kleine Zelte aufschlagen“, gibt sie Auskunft. In der Regel lassen die Israelis so etwas nicht zu und schicken sofort einige Patrouillenfahrzeuge, um uns zu vertreiben, solange wir ihnen glaubhaft signalisieren können, dass wir Studenten sind, die hier einfach nur campen wollen. Noch bevor sie allerdings reagieren können, wird von den umliegenden Hügeln das Feuer auf sie eröffnet. Den restlichen Plan kennst du im wesentlichen. Für die Flucht ist jeder für sich selbst verantwortlich“. Wieder wird mir flau im Magen und ich spüre wie mir der Schweiß ausbricht.

Nach einer anstrengenden Fahrt bergauf erreichen wir die Berghöhe und verharren einen kurzen Augenblick, um die auf einem Bergkegel vor uns liegende Festung Beaufort in einer Entfernung von vielleicht fünfzehn Kilometern zu betrachten und die baumlose Graslandschaft davor, die wir nun zügig auf einer einspurigen Landstraße durchqueren müssen.

An einem trocknen Bachbett weniger als einen Kilometerunterhalb der Festung sind die Gotteskämpfer schon dabei, silbern glänzende Sturmzelte aufzuschlagen. Wenige Minuten später ermahnt uns ein Guerillo nicht auf die Blinkmorsezeichen zu achten, die jetzt von der Festung abgegeben werden, sondern uns mit der Vorbereitung unseres Picknicks zu beschäftigen Doch schon kurze Zeit später verwandeln die ersten Maschinengewehrsalven unser angespanntes Morgenidyll in ein Inferno. Die Japanerin schreit nun, wir sollen alle hinter dem Kombi her in Richtung Festung laufen. Die Guerillos, die vor uns laufen, tragen jeweils in der linken Hand eine runde Kugel. Einer von ihnen hat eine große Kabelrolle auf dem Rücken. Bob und ich versuchen ihnen so weit wie möglich auf den Fersen zu bleiben, wobei es mir immer wieder gelingt, die kämpfende Truppe vor mir aus der Hockstellung heraus von unten zu filmen. Das dynamische Mikrofon wird auch die Kampfgeräusche akustisch richtig wiedergeben. Je höher wir kommen, desto heftiger schlagen über uns und neben uns die Projektile ein und zwingen uns mitunter zu ganzkörperlicher Bodenhaftung, Die Gotteskämpfer schwingen nun in immer schneller werdenden kreisenden Bewegungen ihre Kugeln und lassen sie dann durch die Luft schwirren bis sie ihr Ziel innerhalb des Festungspostens erreichen und sich in einem Feuerball entladen. Es folgt Explosion auf Explosion. Plötzlich höre ich Bob aufschreien. Er hat beide Hände vors Gesicht geschlagen, und schwankt bei dem Versuch aufrecht stehen zu bleiben. Zunächst scheint alles glimpflich abgelaufen zu sein. Sein Brillengestell ist allerdings zerbrochen und Glassplitter sind über seine Kleidung verstreut. Vermutlich sind aber auch Glassplitter in sein rechtes Auge gelangt, so dass er über große Schmerzen klagt.

Jetzt hören wir plötzlich eine Art Jubelschreie. Ich habe den Eindruck, dass die Gotteskrieger den Außenposten tatsächlich überrannt haben. Ich teile meine Vermutung Bob mit und meine Absicht, dies noch filmen zu müssen. “Ich bin in wenigen Minuten zurück“, versichere ich ihm und bin erleichtert, dass Bob mich voller Verständnis aus der Pflicht, ihm beizustehen, entlässt.

Wenige Minuten später bin ich oben an der Festungsmauer angelangt, die an zwei Stellen so stark getroffen wurde, dass es mir gelingt, über die herabgefallenen Bruchsteine hinaufzuklettern. Die Einnahme des Außenpostens ist offenbar leichter gewesen, als es sich die Guerillas das vorgestellt haben, denn sie stehen ganz locker herum. Aber unvermittelt treten sie dann den Rückzug an, nachdem sie noch einige Fahnen in die zerborstenen Einschussstellen der Brüstung gesteckt haben und noch einige Gebäude zur Explosion gebracht haben. In aller Eile bemühen Bob und ich uns den Berg hinunter in die Grasfelder zu gelangen und finden schließlich nur wenige hundert Meter vom Bachbett entfernt einen Unterschlupf in Form zweier narbiger aneinandergelehnter Felsbrocken. Dort haben wir Platz genug, um einige Stunden abzuwarten bis sich die Aufregung draußen gelegt hat.

Es ist fast Mittag als wir plötzlich unter uns Stimmen hören, englische Wortbrocken. Elektrisiert richten wir uns auf und lugen Richtung dieser unverhofften Zivilisationsverheißung. Eine kleine Gruppe von Frauen und Männern stehen im ausgetrockneten Bachbett, gebeugt über irgendwas, das ihr Interesse so sehr in Anspruch nimmt, dass sie offenbar von der Problematik ihrer Umwelt noch nichts wahrgenommen haben. Das Zusammentreffen mit Zivilisten ist unsere Chance. Die Gruppe wendet sich bass erstaunt uns zu. „Wir befinden uns alle hier und jetzt in größter Lebensgefahr“ beginne ich hastig, „wir sind Jounalisten und gerieten ins Kreuzfeuer von Guerillos und Verteidigern der Burg“, behaupte ich. Seit Stunden haben wir uns hier unter diesen Felsen verborgen.

Im Augenblick ist es ruhig. Wir müssen aber sofort hier weg.“ Den Mienen unserer neuen Bekannten – einem Hochschullehrer-Ehepaar an der Universität in Beirut, in Begleitung einer Gaststudentin- ist abzulesen, dass unser abenteuerliches Äußeres nicht eben ihr Vertrauen erweckt. Dennoch sind sie zu unserer großen Erleichterung bereit, Bob und mich mit ihrem PKW, den sie am Ausgang des nächsten Dorfes abgestellt haben, auf ihrer Rückfahrt nach Beirut mitzunehmen. Bob zögert einen Augenblick, im Kampfgetümmel haben wir zu seinem größten Kummer seinen Assistenten verloren, schließlich nickt er und nimmt wie ich das Mitfahrangebot erfreut an.

Kurzgeschichte: Marthes Begegnungen mit Osama bin Laden Meine Freundin Marthe hat mir einst von ihren zwei Begegnungen mit Osama bin Laden erzählt, zwei missglückte wie sie betonte. Ihr ging es, neugierig wie sie als Auslandskorrespondentin von Berufs wegen war, vor allem darum, etwas über die näheren Lebensumstände und Zielsetzungen von Osama bin Laden zu erfahren. Sie wusste, eigentlich gab es für VertreterInnen westlicher Länder, vor allem für Journalisten, und insbesondere für sie als Frau, keine Möglichkeit an bin Laden heranzukommen. Und schon gar nicht um ein Interview mit ihm zu führen.
Marthe war aber eine gewiefte Journalistin. Sie war es gewohnt sich den Zugang zu interessanten news mit diversen Tricksereien und markanten sog. „ journalistischen Aufhängern“ zu verschaffen. So kamen auch ihre Begegnungen mit Osama bin Laden zustande. Mehr. (Text danach verdeckt) Die Anreise zu einem Treffpunkt in Kandahar in Afghanistan- mal per Geländewagen in vielstündiger Durchruckelei, mal per Maulesel, mal zu Fuß- war äußerst beschwerlich, wie sie sich erinnerte. In ihrem Beruf als Auslandsjournalistin war sie es allerdings gewohnt mühsame Anfahrtsstrecken zurückzulegen. Marthe hatte sich in eine rein männliche afghanische Ärztegruppe eingeschmuggelt, die von bin Laden für seinen „Harem“ wie Marthe die Frauengruppe um Bin Laden spöttisch nannte, aus Deutschland eingeladen worden war. Es handelte sich um Afghanen, die sich als Ärzte in verschiedenen Städten Deutschlands , u.a. in Essen, Bochum, und Dortmund niedergelassen hatten, den Kontakt zu ihrem Heimatland aber nicht aufgegeben hatten. Marthe gab sich dabei selber als Ärztin aus. Sie meinte ihr Beruf als Auslandsjournalistin würde einen derartigen „ Etiketten-schwindel“, wie sie diesen Umstand freundlich umschrieb, gelegentlich rechtfertigen. Ihr Vorteil gegenüber den Männern der Ärztegruppe lag darin, dass sie als Frau die einzige Person sein würde, die direkten Kontakt zu den „Haremsfrauen“ aufnehmen durfte. Ihr journalistisches Interesse und das ihrer Auftraggeber galt zwar hauptsächlich der Person bin Ladens, aber auf die Lebensumstände von Frauen um bin Laden war sie durchaus auch neugierig.
Nach einem stundenlangen Fußmarsch waren sie an einer zerklüfteten Felswand angelangt an der in unterschiedlicher Höhe verschiedene Höhleneingänge zu erkennen waren. Aus einigen drang ein schwaches Licht zu ihnen herunter. Wenig später wurden sie aufgefordert in eine dieser Höhlen einzutreten. Im Hintergrund der Höhle konnte sie zwei schwach erleuchtete Durchgänge erkennen. Durch einen dieser Durchgänge kam wenig später in einer leicht vornübergebeugten Haltung ihr Gastgeber bin Laden mit zwei weiteren Männern. Alle drei in Nomadenkleidung wie sie in biblischen Bildern zu sehen sind. In bedächtiger Langsamkeit kam er auf die Ärztegruppe zu ohne die Miene zu verziehen. Er verneigte sich leicht, sprach einige Willkommensformeln während er mit der Begrüßungsgestik der Beduinen die Hand an die Brust legte. Er wies ihnen doppelt aufgestapelte Matratzen als Sitzplatz zu. Davor standen zwei einfache Holztische, auf einem stand ein modernes Diktiergerät, wie sie erstaunt bemerkte. Erwartungsvoll hatte sie ihn angelächelt, da sie ihm schon vor etlichen Jahren in der saudischen Stadt Djiddah kurz begegnet war. Seinerzeit wurde er von einer seiner zahlreichen Schwestern begleitet, die angeblich mit einem Deutschen verlobt war. Auch damals schon war sie zur Tarnung in die Rolle einer Ärztin geschlüpft und hatte sich einer Gruppe irakischer und afghanischer Ärzte angeschlossen, die in bin Ladens Guerilla Trainingslager in den afghanischen Bergen zur medizinischen Versorgung von Frauen eingeladen worden war. In welche Gefahr sie sich damals befunden hatte und jetzt erneut begab, schien ihr nicht wirklich bewusst zu sein oder wurde von ihr aus journalistischem Übereifer verdrängt. Wie leicht hätte ihre Tarnung auffliegen können, zumal ihre medizinischen Kenntnisse spärlich waren.
Jetzt viele Jahre später inmitten einer rein afghanischen Ärztegruppe traf sie nun bin Laden wieder, den sie trotz seines überlangen zotteligen, graumelierten Bartes sofort wiedererkannte. Er reagierte nicht auf ihr Lächern, sondern blickte sie mit einer vollkommen versteinerten Miene unter dem kappenähnlichen weißen Turban an. Offenbar konnte er sich überhaupt nicht mehr an sie erinnern. Zu ihrem Glück würde ich sagen. Womöglich wäre ansonsten ihr „Etikettenschwindel“ rasch aufgeflogen. Er ließ stattdessen seinen aufmerksamen aber ansonsten ausdruckslosen Blick beinahe unmerklich über die Ärztegruppe hinwegstreifen bevor er sich in hagerer Würde mit gekreuzten Beinen niederließ. Dabei blickte er in milder Abgeklärtheit von einem zum anderen. Offenbar auf seine Anweisung hin wurde Marthe wenig später aus der Männerrunde entfernt, denn zwei Frauen in tiefer Verschleierung winkten ihr aus dem zweiten Durchgang zu sich. Gegen ihren Willen landete Marthe nun im sog. „Harem“ von bin Laden. Dass sie an den Gesprächen mit Bin Laden nun nicht mehr teilnehmen konnte, war für sie natürlich eine herbe Enttäuschung. Immerhin war bin Laden für sie und ihre Auftraggeber journalistisch gesehen ein Knüller, unerreichbar vor allem für westliche Journalisten. Zu ihrem großen Bedauern bekam sie bin Laden während ihres gesamten Aufenthalts nicht mehr zu sehen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig als sich mit der Beobachtung der Lebensumstände der Frauen in seiner Umgebung zu begnügen. Die Räumlichkeiten der Frauen waren spärlich mit nichts anderem als großen Ballen von Bettzeug ausgestattet , die am Tage als einzige Sitzgelegenheit dienten. In einer kleinen Küche befand sich lediglich ein Gasbrenner und ein großer Wasserbehälter. Abgetrennt durch einen Vorhang von der Küche gab es ein winziges arabisches Klo. Ein unsicher flackerndes Licht, das von einem Generator draußen erzeugt wurde, war kaum geeignet das trostlose Ambiente aufzuheitern. Marthe verbrachte in den Räumlichkeiten der Frauen einige Tage, ohne allzu viel über deren Verwandtschafts-beziehungen mit Bin Laden zu erfahren. Nur soviel: Im sog. Harem lebten vier Frauen, drei junge Frauen und eine alte Afrikanerin aus dem Sudan. Letztere war etwas gesprächiger als die anderen. Sie erzählte, sie sei als kleines Mädchen von Sklavenhändlern aufgegriffen worden, in eine fremde Familie gebracht worden, die sie dann viele Jahre im Haushalt beschäftigt hatte. Später wurde sie an einen Pakistani verkauft und schließlich dem jüngsten Sohn ihrer Herrschaft, der sich Bin Laden angeschlossen hatte, mitgegeben. Er war jetzt der Ehemann des Jüngsten der drei Mädchen, die gerade erst 14 Jahre alt war. Ob die beiden anderen jungen Frauen Ehefrauen von Bin Laden waren konnte Marthe nicht in Erfahrung bringen. Die ganze Zeit während ihrer Anwesenheit trugen die jungen Frauen eine Burka, eine Tarnhülle mit abstrusem Gittereinsatz vor den Augen. Nur mit der alten Sudanesin konnte sich Marthe leidlich – sie hatte begrenzte arabische Sprachkenntnisse - verständigen. Diese ließ sie sogar ihre Burka ausprobieren. Hinter dem Stoffgitter sah Marthe alles nur farblos und schemenhaft. Offenkundig litten die Frauen durch ihre Abgeschirmtheit, sei es durch die Burka oder das Leben in den Höhlen unter einem Vitamin- und Sauerstoffmangel, denn ihre bis zur Farblosigkeit blasse Haut fühlte sich erschreckend laff an.
Obwohl die Ärzte die Frauen nicht sehen durften, vermuteten sie angesichts von deren Lebensumständen einen großen Vitaminmangel und überbrachten ihnen (über Marthe) als erstes entsprechende Päckchen mit Vitaminpräparaten. In den nächsten zwei Tagen übermittelte Marthe in der Rolle als Ärztin die Krankheitsangaben der verschleierten Frauen an die Ärzte, wobei die Sudanesin übersetzte und bei den Untersuchungen assistierte. Ihren Körper offenbarten die Frauen ohne jegliche Scham, nur das Gesicht blieb verschleiert. Offenbar verbanden sie ihre persönliche Identität nicht mit ihrer geschlechtlichen Körperlichkeit, sondern nur mit ihrem Gesicht, das Marthe, abgesehen von dem der älteren Sudanesin, während ihrer tagelangen Anwesenheit nicht zu sehen bekam. Marthe schrieb die Angaben auf Zettel. Die Ärzte entschieden dann welche Medikamente welcher Frau in welchen Dosierungen zukommen sollte. Marthe hatte aus einem Praktikum im Altersheim noch einige brauchbare medizinische Kenntnisse in Erinnerung behalten, so dass sie wenigstens die Krankheitsangaben der Frauen halbwegs gewissenhaft prüfen konnte und draußen an die „Kollegen“ weitergeben konnte. Die alte Sudanesin übersetzte bei den Konsultationen und assistierte bei den Untersuchungen. Alles lief glatt ohne nennenswerte Zwischenfälle ab. Allerdings wurde Marthe wie sie jedenfalls behauptete durchaus von schlechtem Gewissen den afghanischen Frauen gegenüber geplagt. Immerhin wurde den Frauen professionelle medizinische Hilfe vorenthalten. Ganz wohl war ihr in ihrer Haut aber schon deshalb nicht, weil sie wusste, dass ihre Tarnung jeden Moment auffliegen konnte. Ein unbedachtes Wort oder ungeschicktes Verhalten hätten sie das Leben kosten können. Wie gefährlich bin Laden sein konnte hatte sie bereits den Berichten ihrer britischen Kollegen entnehmen können. Vermutlich hatte seine Gefährlichkeit im Laufe der Zeit eher noch zugenommen. Jetzt gab es angeblich geringfügigere Anlässe für ihn um Morddrohungen auszustoßen und in die Tat umzusetzen.
Auch in einem anderen Punkt war die politische Landschaft bei ihren beiden Begegnungen mit bin Laden grundverschieden. Bei ihrem ersten Treffen kämpfte Bin Laden, der sich mit den Worten von Marthe nun als „unerbittlicher Gotteskrieger eigener Prägung“ sah noch als Lieblingsguerillero der USA gegen die sowjetische Schutzmacht und ihre afghanische Vasallenregierung. Dennoch war die Lage für Marthe äußerst brenzlich. Jedenfalls jagte es ihr doch einen gehörigen Schreck ein als sie auf der Rückreise von den mitreisenden Ärzten erfuhr, dass bin Laden tatsächlich ernsthaft bei ihnen angefragt hatte, ob man sie nicht mit einem seiner Leute zwangsverheiraten könnte, vermutlich um eine Ärztin dauerhaft in der Nähe zu haben. Zu ihrem Glück hatte die Ärztegruppe davon überzeugend abgeraten. Wenngleich es für sie nicht möglich war noch einige Worte mit Bin Laden zu wechseln, geschweige denn an den Gesprächen der Ärztegruppe mit ihm teilzunehmen - er hielt es ( zu ihrem Glück wie ich meine) nicht mal für notwendig sich von ihr zu verabschieden, so hatte sie in den Tagen ihrer Anwesenheit in der Frauengruppe doch ausreichend Gelegenheit Denken und Verhalten der Frauen näher zu studieren. Was sie besonders interessierte war die Frage, warum die Frauen im sog. Harem von Bin Laden offenbar so willig waren, das Tragen der Burka zu akzeptieren. Sinngemäß antwortete die alte Sudanesin darauf: “Alles hat immer etwas Gutes und etwas Schlechtes. Wer verborgen bleibt wird nicht beachtet und am Ende wohl auch nicht geachtet. Aber ohne Burka fühlen sich die Frauen hier schutzlos wie Schnecken ohne Schneckenhaus. Unter freiem Himmel ist sie ihnen ein Ersatz für die eigenen vier Wände, die sie seit ihrer Kindheit nur selten verlassen durften. Sie schützt gegen alles Fremde, dem sie ohne Burka ausgesetzt wären, vor allem gegen den Zugriff fremder Männer. Und ihre eigenen Männer macht es stolz eine Frau unter der Burka zu haben“.
So kann frau das also auch sehen. Wie kann es sein, dass Frauen sich so schutzlos in der Welt um sie herum fühlen, dass sie sich total verhüllen müssen, vor allem gegenüber fremden Männern, aber auch gegenüber fremden Frauen. Wie kann es sein, dass Männer stolz sind, dass ihre Frauen sich mit einer Burka verhüllen? Fragen und Behauptungen, die ich nicht nachvollziehen kann. Wie tief können Frauen kulturell bloß sinken!