Hier sind meine Kurzgechichten:
Erstaunt registriert die westliche Welt seit einigen Jahren, mit welchem anscheinend ungebrochenen Mut und unerschütterlichem Kampfgeist viele Frauen aus dem Iran, vor allem aus der Provinz Kurdistan, sich gegen das derzeitige muslimische menschen- und frauenverachtende Regime zur Wehr setzen.
Dabei scheuen viele von ihnen weder das Risiko eines Gefängnisaufenthalts noch Körperverletzungen durch Sicherheitskräfte noch weitreichende Repressionen im Alltagsleben. Täglich leben sie in dem Bewusstsein, dass sie sich mit heimlichen oder offenen Aktionen nicht nur der Gefahr ständiger Beobachtung und Kontrolle durch staatliche Instanzen im Alltagsleben aussetzen, Geldbußen aufgelegt bekommen können oder inhaftiert werden, wobei ihnen Folterungen und Misshandlungen drohen können. Sie wissen auch, dass ihnen für kleinste Widerstandsaktionen wie Teilnahme an einer Demonstration oder Protestaktionen die Todesstrafe drohen kann.
Seit September 2022 gibt es im Iran anhaltende landesweite Proteste gegen die autoritäre Regierung und die repressiven Lebensbedingungen im Lande, unter denen vor allem Frauen zu leiden haben. Auslöser war der Tod von Jina Mahsa Amini durch Polizeigewalt was zu landesweiten Demonstrationen führte. Die kurdische Iranerin war wegen eines Verstoßes gegen die Kleiderordnung (verrutschtes Kopftuch) von der iranischen Sittenpolizei festgenommen und nach Misshandlungen im Gefängnis verstorben.
Die große Anteilnahme bis hin zu landesweiten Demonstrationen in der iranischen Bevölkerung (Frauen und Männer) am Tod einer Frau, die sich offen u.a. gegen die erlassene Kleiderordnung gewehrt hatte, stießen weltweit auf breite Beachtung. Besonders bemerkenswert ist dabei auch die große Solidarität mit den Widerstandskämpferinnen im Iran/oft aus der Provinz Kurdistan und generell den im Lande lebenden unterdrückten Frauen in weiten Teilen der iranischen Bevölkerung. Entweder ist Solidarität mit Widerstand leistenden Frauen tatsächlich sehr selten in der Welt oder es wird in der Weltpresse nicht allzu oft darüber berichtet.
Dagegen liegen über kurdisch-iranische Widerstandskämpferinnen bzw. Aktivistinnen, nicht zuletzt dank Amnesty international, zahlreiche Dokumentationen vor.
Um nur einige Beispiele zu nennen:
Die iranisch- kurdische Aktivistin Pakhshan Azizi:
Ihr droht im Iran die Hinrichtung, nachdem sie im Juli 2024 in Verbindung mit friedlichen humanitären und menschenrechtlichen Aktivitäten zum Tode verurteilt worden war. U.a. hatte sie vertriebenen Frauen und Kindern im Nordosten Syriens geholfen. Ihr Prozess entsprach nicht internationalen Standards. Ihre Folter- und Misshandlungsvorwürfe wurden nie untersucht. 1) Quelle: Amnesty International Deutschland e.V.
Die iranisch-kurdische Aktivistin Zeynab Jalalilan:
Sie verbüßt derzeit eine lebenslange Haftstrafe im Gefängnis von Kermanshah im Westen des Iran. Sie wurde im Jahr 2009 vor dem Revolutionsgericht von Kermanshah wegen „Feindschaft zu Gott" zum Tode verurteilt. Die Verurteilung steht mit ihrer mutmaßlichen Mitgliedschaft in der bewaffneten kurdischen Oppositionsgruppe „Partei für ein freies Leben in Kurdistan" in Zusammenhang. Zuvor hatte sie acht Monate lang in einer Hafteinrichtung des Geheimdienstministeriums in Untersuchungshaft gesessen. Ihren Angaben zufolge wurde sie während dieser Zeit gefoltert. In ihrem Gerichtsverfahren, das offenbar nur wenige Minuten dauerte, hatte sie keinen Zugang zu einem Rechtsbeistand. Das Todesurteil gegen sie wurde im November 2011 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt.2) Quelle: Amnesty international Deutschland e.V.
Narges Mohammadi, iranische Menschenrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin, Mitglied des iranischen Zentrums für die Verteidigung der Menschenrechte.
Sie wurde wiederholt verhaftet und zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, u.a. erstmals 1998 wegen ihrer Kritik an der iranischen Regierung, im Jahr 2010 wegen ihrer Mitgliedschaft im DHRC, 2015 wegen Gründung einer illegalen Gruppe" für die Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe und wegen „Propaganda gegen das System" für Interviews mit internationalen Medien, 2024 erneut wegen „Propaganda gegen das System" , weil sie angeblich fälschlicherweise den sexuellen Missbrauch von Frauen in iranischen Gefängnissen angeprangert hätte. Das Spektrum ihrer politischen Aktivitäten ist breit gefächert. Es reicht von Protesten und Aktivitäten gegen das herrschende Regime wegen Menschenrechtsverletzungen und Unterdrückung ( u.a. wegen der Kleiderordnung für Frauen), über Sitzblockaden im Evin Gefängnis wegen der Tötung und Verhaftung von Demonstranten durch Sicherheitskräfte z.B. im November 2019, Veröffentlichungen von Videos zur Abschaffung der Todesstrafe bis hin zu Sitzblockaden und Hungerstreiks im Evin Gefängnis in Teheran, u.a. gegen den verwehrten Zugang zu medizinischer Versorgung und wegen sexuellen Missbrauchs von Frauen im Gefängnis.
Die iranische Menschenrechts-und Arbeitsrechtsaktivistin Sharifeh Mohammadi, Gegnerin der Todesstrafe:
Sie wurde im Juni 2024 von einem Revolutionsgericht in Rascht wegen angeblicher „bewaffneter Rebellion gegen den Staat" zum Tode verurteilt. Nach der Festnahme war sie in einer Haftanstalt des Geheimdienstministeriums in Sanandaj mit verbundenen Augen gefoltert und mißhandelt worden. Im August 2025 hat der Oberste Gerichtshof das politisch motivierte Todesurteil erneut bestätigt. Ihre Verurteilung basierte lediglich auf ihren friedlichen menschenrechtlichen Aktivitäten für Frauen und Arbeitnehmerinnen.
Aus dem Iran wurden speziell im letzten Jahrzehnt noch zahlreiche weitere Fälle von Verhaftungen und harten Bestrafungen - von Inhaftierung, Folterung bis hin zur Tötung - von Menschenrechtsaktivistinnen und Widerstandskämpferinnen gegen das herrschende Regime bekannt, die dank Amnesty international und den internationalen Medien weltweit für großes Aufsehen sorgten.
Auf einige von ihnen sei im folgenden noch kurz stellvertretend für viele hingewiesen:
Die Menschenrechtlerin Wrisha Moradi wurde 2023 zu einer hohen Haftstrafe verurteilt, u.a. weil sie gemeinsam mit Pakhshan Azizi gegen die Todesstrafe gekämpft hatte.
Die Menschnrechtsaktivistin Golrokh Ebrahhimi Iraee setzte sich vor ihrer Verhaftung im Jahr 2024 zusammen mit ihrem Ehemann Arash Sadeghi für die Menschenrechte ein, unter anderem für politische Gefangene und Meinungsfreiheit sowie gegen die Todesstrafe.
Amnesty International hat darüber hinaus dokumentiert, dass die iranischen Behörden routinemäßig Angehörige der kurdischen Minderheit willkürlich festnehmen und inhaftieren, nur weil sie tatsächlich oder angeblich kurdische oder kommunistische Parteien oder gewerkschaftliche Organisationen unterstützen oder ihnen nahestehen. Meist liegen keine ausreichenden Be-weise vor, für eine direkte oder indirekte Beteiligung an einer international als Straftat anerkannte Handlung.
Aber nicht alle Frauen, die sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzen und /oder Widerstand gegen die Politik des islamischen Staates leisten, und sich dafür großen Gefahren und Beschwernissen im Alltagsleben aussetzen bis hin zum Risiko, ihr eigenes Leben zu verlieren, stehen so im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit wie die oben genannten Politikaktivistinnen. Es ist bekannt, dass es eine große Dunkelzimmer von Frauen gibt, die im Iran, vor allem auch in der Provinz Kurdistan, im Verborgenen Widerstand gegen die Politik des islamischen Staates leisten und sich aktiv für Menschen-und Frauenrechte einsetzen. Viele von ihnen engagieren sich politisch im Rahmen von politischen Parteien, z.B. kurdisch-kommunistischen Parteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen, die im Iran verboten sind. Dies geschieht zum großen Teil im Geheimen d.h. im Untergrund, um sich nicht großen Gefahren und Bestrafungen auszusetzen.
Eine von ihnen habe ich persönlich näher kennen und bewundern gelernt. Über sie möchte ich im folgenden berichten, sozusagen stellvertretend für das Schicksal vieler mutiger und kämpferischer Frauen, die im Iran leben oder gelebt haben, vor allem in der Provinz Kurdistan.
Aus der Sicht von Shabnam bedeutet ihr Name soviel wie „Der Tau liegt auf dem Gras" oder kurz Morgentau. Er stand für sie und ihre Mutter für Neuanfang, Aufbruch und gesellschaftliche Veränderungen. Diese Interpretation ihres Namens dürften für ihr Schicksal, ihre Ziele und Sehnsüchte nicht ohne Einfluss wenn nicht sogar wegweisend gewesen sein.
Shabnam, Jahrgang 1980, geboren im Iran in der Provinz Kurdistan. Sie war das jüngste von sieben Kindern, die ihre Mutter von ihrem 1. Ehemann, Shabnams leiblichem Vater, zur Welt gebracht hatte. Als sie zwei Jahre alt war starb ihr Vater, von einem Revolutionsgericht zum Tode verurteilt und durch Schusswaffen hingerichtet wurde. Der Grund: Er war jahrzehntelang im
Untergrund für eine verbotene regimekritische Partei in der Provinz Kurdistan im Iran aktiv tätig gewesen, zunächst noch weitgehend unentdeckt, dann aber unter ständiger Beobachtung durch Sicherheitskräfte. Gerade um 1979 und in den Jahren danach war die regimekritische kommunistische Partei in eine Art Guerillakrieg gegen die iranische Regierung verwickelt, insbesondere während des kurdischen Aufstands von 1979 und des Iran-Irak-Krieges. Ihr Ziel war die sozialistische Revolution mit marxistisch-leninistischer Orientierung und die territoriale Unabhängigkeit Kurdistans vom Iran.
Der Vater von Shabnam war sich immer bewusst, dass er durch seine politischen Aktivitäten in großer Lebensgefahr schwebte. Er meinte es eigentlich nicht verantworten zu können (viele) Kinder in die Welt zu setzen, fand aber mit seinen Wünschen nach Schwangerschaftsverhütung in seinem familiären Umfeld keine Unterstützung. Fruchtbar zu sein und viele Kinder zu gebären war sowohl für seine Mutter und ihre Vorfahren als auch für seine Frau und ihre Verwandtschaft ein sehr hohes kulturelles Gut. Da war es dann durchaus vertretbar, wenn nicht sogar geboten, die Verhütungspillen, wo und wie immer ihr Vater an sie rangekommen sein mag, zum richtigen Zeitpunkt zu vergessen. Auch für Shabnam kein Grund zum Bedauern. Sie wäre sonst gar nicht auf der Welt.
Nach dem Tod ihres Mannes wurde Shabnams Mutter die Frau seines Bruders. Das entsprach den traditionellen kulturellen Regeln, Werten und Strukturen. Von ihm bekam sie in den darauf folgenden Jahren noch zwei weitere Kinder. Zum Zeitpunkt der Heirat mit ihrer Mutter war Shabnams Stiefvater bereits mit einer anderen Frau verheiratet, die ihm im Laufe ihrer Ehe drei Kinder gebar. Er war ein gut situierter Mann - dank einer relativ hohen beruflichen Position bei der Verkehrspolizei. Der Unterhalt der Grossfamilie war bis zur Verurteilung des Vaters von Shabnam mit keinen wirtschaftlichen Problemen für ihn verbunden. Das änderte sich mit der Hinrichtung von Shabnams Vater. Es hiess, dass ihr Stiefvater wegen seiner Verwandtschaft mit ihm einige Zeit später seinen gut bezahlten Arbeitsplatz bei der Verkehrspolizei, sozusagen aus Sippenhaftung, verloren hätte. Damit verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie einschneidend, obwohl einige finanzielle Reserven u.a. aus Erbgut vorhanden waren.
Shabnam hatte sich mit ihrem Stiefvater nie gut verstanden. Obwohl sie ihren leiblichen Vater kaum selber richtig kennengelernt hatte - sie war erst zwei Jahre alt als er starb - hatte sie sich schon in jungen Jahren aus den Erzählungen
ihrer Mutter und ihrer Geschwister ein klares, festes Bild von ihm gemacht. Er war und blieb für sie ein Leben lang der große Held, der sie bedingungslos geliebt hatte. Ihre ständige Schwärmerei von ihrem verstorbenen Vater machte sie nicht bei allen Menschen in ihrer familiären Umgebung beliebt, schon gar nicht bei ihrem Stiefvater, dem sie immer unverhüllt zu erkennen gegeben hatte, dass er ihrem leiblichen Vater „nicht das Wasser reichen konnte". Mit ihrer lebhaften ehrlichen und direkten Art, Gefühle von Wut und Abneigung zum Ausdruck zu bringen, war sie ihrem Stiefvater nicht nur gleichgültig, sondern oft genug ein lästiges Ärgernis.
Er war aber genug mit seinen zahlreichen leiblichen Kindern beschäftigt, um sich von ihren Schwärmereien provozieren zu lassen.
Die Gedanken an ihren leiblichen Vater, der Glaube an ihn als großen Helden, gaben Shabnam den notwendigen Halt und Trost, um ein überwiegend freudloses Alltagsleben in ihrer Jugend durchzustehen.
Ihren Stiefvater mochte sie nicht, hasste ihn zeitweise sogar. Ihre Mutter war mit der Aufzucht und existentiellen Versorgung von acht weiteren Kindern so stark in Anspruch genommen, dass sie Shabnam als jüngstem Kind ihres verstorbenen Mannes, dem zwei weitere Kinder aus zweiter Ehe folgten - nicht die Fürsorge und Aufmerksamkeit schenken konnte, die diese zweifellos benötigt hätte.
Einen endgültigen Riss bekam die Beziehung zu ihrem Stiefvater als er sie mit Zustimmung des Bruders ihrer Mutter im Alter von vierzehn Jahren aus der Schule nahm. All ihr Betteln hatte nichts genützt. Immer wieder hatte sie ihn angefleht. Sie war eine gute Schülerin gewesen. Sie ging gerne zur Schule. Die Aussicht auf ein interessantes Leben und eine erfolgreiche berufliche und soziale Zukunft durch gute Schul- und möglicherweise Hochschulabschlüsse hatten ihr viele Jahre lang Kraft und Trost gegeben, um ihr weitgehend freudloses Alltagsleben täglich zu ertragen. Sie wusste ihre Familie war insgesamt wirtschaftlich gut gestellt. Es wäre für sie mit keinen großen finanziellen Belastungen verbunden gewesen, wenn ihr erlaubt worden wäre, eine weiterführende Schule zu besuchen. Aber die Entscheidung ihres Stiefvaters und ihres Onkels mütterlicherseits war hart und unerbittlich. Auch ihrer Mutter, die sich für sie einsetzte, gelang es nicht sie umstimmen. Aber es kam noch schlimmer für Shabnam. Wenige Monate nach Abschluss ihrer Volksschule - sie war immer noch erst vierzehn Jahre alt - wurde Shabnam von
ihrem Stiefvater mit dem Sohn einer Familie seines Freundeskreises zwangsverheiratet. Als sie erkannte, dass all ihr Flehen erfolglos sein würde verwandelte sich ihre Verzweiflung in kalte Wut und sie spuckte vor ihm aus, um ihm wenigstens ihre Verachtung entgegenzuschleudern. Auch dies blieb ohne jegliche Resonanz. Ihr Stiefvater fühlte sich vollkommen im Recht ihr gegenüber; er hatte seine Pflicht ihr gegenüber erfüllt, in dem er sie mit dem Sohn einer angesehenen Familie verheiratet hatte. Aus der Sicht vieler Familien eine glückliche Fügung für ein junges unverheiratetes Mädchen und für den Stiefvater eine Last weniger. Es gab für ihn also keinen Grund ihren Wünschen und Interessen mehr Gehör zu schenken, konnte er doch auf diese Weise möglichen Belastungen, Ärgernissen und Risiken, die mit einer ungeliebten Stieftochter aus seiner Sicht vorprogrammiert waren, geschickt aus dem Wege gehen. Was ihm in seinem sozialen Umfeld vermutlich noch Wohlwollen und Ansehen einbrachte, zumal er eine großzügige Mitgift für den Ehemann von Shabnam zur Verfügung stellte.
Shabnam blieb nichts anderes übrig als sich in ihr unvermeidliches Schicksal zu fügen. Mit ihrem Ehemann, mit dem sie gegen ihren Willen verheiratet wurde, verstand sie sich nach ihren Worten nie besonders. Im Alter von fünfzehn Jahren bekam sie ihr erstes und einziges Kind, einen Sohn. In den ersten Jahren nach seiner Geburt war sie denn auch voll und ganz mit Kinderbetreuung und Familienarbeit beschäftigt und so stark ans Haus gefesselt, dass sie kaum Zeit fand, sich über ihr unbefriedigendes Leben den Kopf zu zerbrechen oder sich Gedanken über alternative Auswege zu machen.
Als ihr Sohn fünf Jahre alt war nahm sich ihr Ehemann eine zweite Frau. Obwohl sie für ihren Ehemann während ihrer Ehe kaum Zuneigung empfunden hatte, empfand sie diesen Schritt als große gesellschaftliche Demütigung und Kränkung. Nach längeren inneren Kämpfen mit sich selbst fand sie die Kraft sich von ihrem Ehemann zu trennen und sich von ihm scheiden zu lassen. Dabei war sie sich immer der Tatsache bewusst, dass sie große wirtschaftliche und gesellschaftliche Risiken und Nachteile einging, wenn sie als alleinstehende Frau und Mutter ohne Beruf, Vermögen und familiären Beistand sich für ein Leben ohne Ehemann entscheiden würde. Es folgten harte Auseinandersetzungen mit ihrem Ehemann, der sich ihrem Wunsch, ihn mit ihrem gemeinsamen Sohn zu verlassen aufs schärfste widersetzte. Schließlich stimmte ihr Noch-Ehemann nach langen Kämpfen der Scheidung und der Übertragung des alleinigen Sorgerechts für ihren Sohn auf sie zu. Der Preis war hoch. Sie musste ihm ihre wertvolle Mitgift, die ihr Stiefvater bei der Heirat ausgezahlt hatte, ganz überlassen und auf jeglichen Unterhalt auch für ihren Sohn verzichten.
Das Leben nach Trennung und Scheidung von ihrem Ehemann war sehr hart. Ohne Beruf und gute Schulausbildung musste sie sich jahrelang mit einfachen Aushilfstätigkeiten für sich und ihren Sohn durchs Leben schlagen. Ohne einen Mann an ihrer Seite war sie immer wieder ein leichtes Opfer von sexistischen Übergriffen und von Gewalttaten gewesen.
Um nur ein Beispiel zu nennen.
Sie berichtete mir in einem Interview, dass ihr heimlich die Tränen über das Gesicht gelaufen seien, als sie vor kurzem an ein Vorstellungsgespräch in jener Zeit erinnert wurde. Sie sei damals von einer Firma eingeladen worden, die administrative Briefe auslieferte. Der Mann, der das Gespräch führte, verlangte eine männliche Bürgschaft von ihr. Als sie sagte, dass sie niemanden hätte, der für sie bürgen könnte, hätte sich sein Verhalten schlagartig geändert. Er hätte sich ihr mit offenkundig eindeutigen Absichten genähert. Als er die Wut in ihren Augen sah, hätte er die Tür seines Büros rasch abgeschlossen. Sie wäre daraufhin aus dem Fenster im ersten Stock gesprungen, wobei sie sich die Hand gebrochen hätte. Sie wagte nicht bei der Polizei Anzeige zu erstatten. Auf Rückfragen sagte sie nur, es wäre ein Unfall gewesen. Um ein Krankenhaus aufzusuchen hatte sie nicht genügend Geld. Schließlich behandelte ein lokaler Chirurg ihre Verletzung gegen ein geringes Entgelt.
In jener Zeit waren die Kontakte zu Mitgliedern einer kommunistischen Partei ihr einziger Trost und Halt. Als Tochter eines Mannes, der für seine Aktivitäten und Kämpfe in dieser Partei sein Leben eingebüßt hatte und dafür als Held verehrt wurde, war auch sie in dieser Partei hoch willkommen.
Allerdings war im Jahr 2000 auf einem Parteikongress bereits eine grundlegende Erneuerung dieser Partei beschlossen worden. Es ging danach nicht mehr um einen Sturz der iranischen Regierung und eine sozialistische Revolution im Land, sondern unter Wahrung ihrer sozialistischen Werten vor allem um den Kampf für die Rechte von Kurden, für soziale Gerechtigkeit, für Demokratie, Menschenrechte und Frauenrechte. Als Shabnam den Kontakt zu dieser Partei aufnahm -etliche Jahre nach deren Neugründung bzw. Erneuerung im Jahre 2000 - galt diese im Iran dennoch als terroristische Vereinigung und war verboten. Bereits die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei war und ist bis heute verfolgungsrelevant. Immer wieder wurden und werden
Gefängnisstrafen teilweise auch Todesstrafen gegen angeblich militante und regimekritische Parteimitglieder verhängt.
Da Shabnams offizielle Mitgliedschaft in einer verbotenen kommunistischen Partei bei Bekanntwerden hart bestraft worden wäre, waren ihre Kontakte zu ihr heimlicher Natur. Immer wieder und immer häufiger traf sie sich schließlich mit anderen Parteimitgliedern und Parteisympathisanten an verschwiegenen Orten z.B. in den Bergen. Das war für sie umso wichtiger, als sie als Tochter eines prominenten Widerstandskämpfers immer Gefahr laufen musste, unter Beobachtung der Sicherheitsbehörden zu stehen.
Die persönlichen oft freundschaftlichen Kontakte zu anderen (meist heimlichen) Parteimitgliedern bedeuteten ihr sehr viel, gerade auch angesichts ihrer sozialen Isolierung als alleinstehende Mutter. Aber auch die Diskussion über die Ziele der verbotenen Partei auf der Basis der marxistisch-leninistischer Lehre übten auf sie eine große Faszination aus. Der Gedanke der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft hin zu einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaft, in der die Produktionsmittel nicht mehr im Besitz weniger sind, sondern der Allgemeinheit gehören, Klassenunterschiede aufgehoben sind und jeder nach seinen Fähigkeiten beiträgt und nach seinen Bedürfnissen erhält, erfüllten sie bis in die Gegenwart hinein mit großer Begeisterung und entsprachen bereits nach wenigen Diskussionen mit Parteimitgliedern an verschwiegenen Orten ihrer inneren Überzeugung. Das Ende der Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen war darüber hinaus ein besonderes Anliegen von ihr.
Nach einer kurzen Phase der passiven Teilnahme an geheimen Treffen von Mitgliedern der kommunistischen Partei begann schließlich ihre aktive Phase der Mitarbeit im politischen Untergrund, die sich mit den Jahren immer mehr in ein starkes politisches Engagement ausweitete - verbunden mit großen lebensbedrohlichen Risiken.
Shabnam beteiligte sich zunächst zaghaft und mit großer Vorsicht am Verteilen von Flugblättern, die z.B. über die Grundsätze und Ideologien der kommunistischen Partei berichteten, an den Jahrestag der Gründung der Partei in Kurdistan/Iran erinnerten, über den sog. Studententag und den Internationalen Frauentag informierten und Aufklärungsarbeit leisteten, z.B. über die bevorstehende Hinrichtung politischer Gefangener.
Einige Zeit später stieg sie schließlich mit vollem Engagement in die Aktivitäten und Aktionen für die Partei ein bis hin zur Organisation von Veranstaltungen und Demonstrationen. Die Untergrundarbeit für ihre Partei war vom ersten Tag an für Shabnam - wie auch für alle anderen (heimlichen) Parteimitglieder - mit großen Risiken und Gefahren verbunden. Die Mitgliedschaft in der Partei war verboten und konnte, sobald die Sicherheitsbehörden in Kenntnis darüber gelangten, mit hohen Strafen verbunden sein. Folglich bedurfte es bei jeder Aktion um lange und gründliche Beratungen und Planungen. Jeder Fehler konnte mit schwerwiegenden Folgen verbunden sein.
Besonders gefährlich war die Festnahme eines Gruppenmitglieds, das an der Planung von Aktionen beteiligt war. Das konnte zur Enttarnung aller Gruppenmitglieder führen, da die festgenommenen Personen in der Regel den mittelalterlichen Foltermethoden der gnadenlosen Gefangenenwärter nicht standhalten konnten. Um die Risiken und Gefahren möglichst klein zu halten, teilten sie sich deshalb z.B. bei Protestveranstaltungen (z.B. aus Anlass der drohenden Hinrichtung politischer Gefangener) in Gruppen von zwei maximal drei Personen auf und blieben so für die Polizei relativ unauffällig in ihren Aktivitäten.
Der jeweilige Veranstaltungsort, festgelegt zunächst von einer kleinen Kerngruppe, wurde auf kleinen Zetteln geschrieben und nachts in die Höfe der Häuser geworfen. Bei den ebenfalls verbotenen Gedenkveranstaltungen z.B. anlässlich des Internationalen Frauentages wurde meist auf größere Demonstrationen verzichtet. Die Erklärungen der Organisation hierzu wurden aber in großer Zahl gedruckt und heimlich - meist auch nachts - in den Häusern verteilt. Dadurch konnten Menschen, die keinen Zugang zum Internet hatten, über internationale politische Ereignisse informiert werden.
Es kam wie zu erwarten. Die politischen Aktivitäten von Shabnam blieben von den Sicherheitskräften nicht lange unbemerkt, zumal sie wegen der politisch motivierten Hinrichtung ihres Vaters schon sehr frühzeitig in deren Visier stand.
Insgesamt wurde Shabnam dreimal wegen ihrer Aktivitäten für ihre verbotene Partei zu einer Gefängnisstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt, die sie überwiegend im Frauentrakt des Zentralgefängnisses der Hauptstadt Sanandaj der Provinz Kurdistan /Iran absitzen musste. Bei ihrer letzten Verurteilung hatte sie als politische Aktivistin am Internationalen Frauentag, dem 8. März, eine Demonstration für Frauenrechte angeführt.
Aus Sorge um ihr Leben stellte schließlich ein Verwandter mütterlicherseits eine hohe Kaution, wodurch Shabnam ihren Gefängnisaufenthalt vorzeitigbeenden konnte. Eine Perspektive für ein Leben in Freiheit war zu diesem Zeitpunkt für Shabnam im Iran nicht mehr erkennbar. Mit Hilfe und Unterstützung von Verwandten und anderen Parteimitgliedern gelang ihr schließlich mit ihrem Sohn die Flucht aus Kurdistan/Iran.
Gertraude war Anfang Zwanzig als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Elke 1945 aus Bütow Pommern Richtung Berlin zu ihrer Schwester Helene flohen. Zu Fuß. War für beide eine einzige Qual. Die Flucht dauerte rund drei Monate. Sie haben später nur selten über diese Flucht gesprochen. Sie haben beide versucht, diesen Alptraum rasch zu vergessen.
Immerhin gelang es den beiden Schwestern auf der Flucht einer Vergewaltigung durch Russen zu entgehen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, auch aus der eigenen Familie. Eine Schwester von Oma Berta Auguste z.B. wurde nach einer Vergewaltigung schwanger. Ihr Sohn blieb ein Leben lang ein Außenseiter, eingeschüchtert und hilflos an seine Mutter geklammert. Nicht zuletzt weil er wegen seiner roten krausen Haare und seiner runden Gesichtskonturen als Abkömmling eines asiatischen Russen leicht erkennbar war und daher von seiner Umwelt abgelehnt und bespöttelt wurde. Eine Tochter der Schwester knapp zwanzig Jahre alt wurde vergewaltigt und verstarb kurz danach, vermutlich ist sie verblutet.
Gertraude und Elke erzählten später, sie hätten sich oft die Gesichter mit Modder, Dreck oder Asche eingerieben, und sich wie alte Weiber auf dem Boden oder in Raumecken hingekauerten, um einer Vergewaltigung zu entgehen. Erfolgreich. Eine andere Geschichte gab es in zwei Versionen. Ein Russe hätte sich einmal Gertraude dreist genähert. Sie gab ihm daraufhin eine Ohrfeige. Er wäre total erstarrt gewesen. Es passierte aber nichts. Diese Version wurde mit einem gewissen Stolz auf Gertraude erzählt, ihr Mut stieß in der Familie auf große Bewunderung. Jahrzehnte später kam von einer anderen Verwandten eine andere Version auf. Der Russe hätte zurückgeschlagen und ihr das Nasenbein gebrochen. Diese Geschichte glaubte Marthe zunächst nicht, allerdings hatte Gertraude immer eine leicht näselnde Stimme, vielleicht ein Tatbestand der doch für die zweite Version sprach.
Die beiden aus ihrer Heimat Pommern vertriebenen Schwestern hatten Ende des zweiten Weltkrieges insofern noch Glück als sie in der Wohnung ihrer Schwester Helene in Berlin zusammen mit ihrer Mutter Berta eine Bleibe fanden. Sie teilten sich ein Zimmer. Gertraude lebte noch rund zwanzig Jahre in dieser Wohnung, Berta rund 15 Jahre ( bis zu ihrem Tod) und Elke mehr als sechzig Jahre bis zu ihrem Tod im 89. Lebensjahr.
Gertraude fand bald nach Kriegsende eine Anstellung bei einem Zahnarzt als Zahnarzthelferin. Bezog ein sehr kleines Gehalt. (Merkwürdigerweise äußerte sie sich immer abfällig über Gewerkschaften). In der Zeit bevor sie aus Bütow vertrieben wurde, war sie noch so gut wie verlobt gewesen. Wie sie später erfuhr, war ihr Freund aber im Krieg gefallen. Sie blieb unverheiratet. Als unverheiratete Frau war sie in der Nachkriegszeit oft irgendwelchen Henseleien und Beleidigungen ausgesetzt.
Es gab für sie angesichts der beengten Wohnverhältnisse kaum die Möglichkeit fremden Besuch zu empfangen. Und wenn nur unter extrem erschwerten Bedingungen. Die Neugierde aller Familienmitglieder war groß. Henseleien über ihre „Verehrer“ an der Tagesordnung. Ihr Freund Lami wurde in der Familie beispielsweise nur “Salami“ genannt. und da waren ja noch ihre beiden Nichten in der Wohnung, die ständig rumalberten, durchs Schlüsselloch oder einen Türspalt lugten oder an der Tür lauschten.
Schlimmer war aber noch, dass die übrigen Familienmitglieder ziemlich instinkt- und herzlos, vorgeblich natürlich nur besorgt und in helfender Absicht, Gertraudes Verehrer mutwillig zu vergraulen suchten. Erfolgreich. Bei Schwester Elke noch nachvollziehbar. Nachdem ihre Ehe kurz nach Kriegsende gescheitert war und sie sich nun einsam und verlassen fühlte, fürchtete sie, sie könnte nun auch noch ihre Schwester Gertraude, mit der sie sich gut verstand, an „einen Mann verlieren“. Eigentlich wurde über alle „Verehrer“ von Gertraude hergezogen. Und natürlich war ja klar: „Der meint es doch gar nicht ernst. Der veräppelt dich doch nur. Der lässt sich doch nie und nimmer scheiden wie er behauptet und heiratet dich“. Leider war Gertraude eigentlich immer geneigt, den Worten und Einflüsterungen ihrer Schwestern zu glauben, mehr als ihrem eigenen Urteil und den Aussagen und Worten ihrer Freunde. Sie trennte sich daher meist nach kurzer Zeit von ihren „Verehrern“ und potentiellen Heiratsanwärtern (In der damaligen Zeit war für die Mädchen/Frauen aus Pommern eine Heirat das wichtigste Ziel). Herr Lami war über die Trennung so erbost, dass er Jahre später bei ihr auftauchte. Er zeigte ihr die Scheidungsurkunde (von seiner ersten Frau). Und teilte ihr mit, dass er längst wieder mit einer anderen Frau verheiratet sei.
Vielleicht hat Gertraude aus diesen Erlebnissen dazu gelernt. Sie machte Mitte vierzig eine Aus- oder Fortbildung als zahnmedizinische Fachangestellte Die anstrengenden Prüfungen haben sie zwar ziemlich mitgenommen, es hat sich aber für sie gelohnt. Sie fand danach eine gut bezahlte Anstellung in einer Zahnklinik. Sie tat sich danach mit einem rund zwanzig Jahre jüngeren Mann zusammen und zog mit ihm in eine gemeinsame Wohnung. In der damaligen Zeit äußerst ungewöhnlich. Mutig, mutig. Marthe gestand sich ein, dass sie selber sich das nicht getraut hätte. Jedenfalls wurde Gertraude danach nicht mehr durch Henseleien von der Familie gequält.
Gertraude spielte viel Lotto. Dabei gewann sie unter dem Namen ihres Freundes einmal über 300 000 DM. Sie teilten sich das Geld. Nach 12 oder 13 Jahren des Zusammenlebens wurde ihr Freund schwer krank. Im Krankenhaus erholte er sich zunächst recht gut. Einen Tag vor seinem Tod hatte sie ihn noch besucht, sie haben sich angeregt miteinander unterhalten und einige Pläne für die Zukunft gemacht (Reisen). Am nächsten Tag erhielt sie die Nachricht, dass er im Krankenhaus überraschend verstorben sei. Die Familie war einigermaßen geschockt. Sein Tod kam für sie überraschend und unerwartet. Niemand stellte über die Ursache für seinen plötzlichen Tod Nachforschungen an, Gertraude und ihre Schwestern waren wie gelähmt. Er war erst Mitte 30.
Er hatte bei seinem Tod auf seinem Konto noch Geld vom Lottogewinn. Es wurde gemunkelt, dass Gertraude dieses Geld erhalten hat. Zu dieser Geschichte gab es mehrere Versionen. Einmal hieß es, sie hätte eine Vollmacht für sein Konto über den Tod hinaus gehabt. Ein anderes Mal hieß es, der Ehemann von Helene, der bei einer Bank beschäftigt war, hätte die Überweisung des Geldes veranlasst und auf den Tag vor seinem Tod vordatiert. Auch wenn die zweite Version einigermaßen abenteuerlich und (allein schon technisch) unwahrscheinlich klang, zumal Marthe ihren Vater immer als total korrekt kannte, hätte Marthe sich unter den damaligen besonderen Umständen gefreut, wenn die zweite Version der Wahrheit entsprochen hätte. Darüber wurde in der Familie aber immer geschwiegen.
Die Reste vom Lottogewinn erlaubten es Gertraude nach dem Tod ihres Freundes jedes Jahr für einen Monat nach Rio zu ihrer Schwester Anni zu fahren. 13 Jahre lang. Dort fand sie endlich die Anerkennung, die sie bei ihrer Familie in Berlin nicht fand. War allerdings nicht ganz billig. Abgesehen von den Reisekosten gab sie ihrer Schwester für jeden Aufenthalt eine beträchtliche Summe an Geld. Ihre Reise nach Rio war manchmal aber auch hoch riskant, wenn man/frau den wilden storys darüber Glauben schenken konnte. So transferierte Gertraude angeblich einige Male für ihren Schwager (Ehemann von Schwester Anni) Geld nach Rio, das sie jeweils vorher von seinem deutschen Konto abgehoben hatte. Sie wickelte sich das Geld um den Bauch, behauptete am Flughafen sie wäre krank. Ließs sich von einem Krankenwagen vom Flugzeug abholen, nur um der Körpervisite des Zolls zu entgehen. Ziemlich wagemutig. Aber auch sehr leichtsinnig, wenn es denn überhaupt so stimmte und die Erzählung nicht reichlich übertrieben war. Fraglich ob die Bewunderung, die sie von der brasilianischen Familie dafür erfuhr, es die damit verbundenen Risiken Wert war.
In ihrem letzten Lebensjahrzehnt engagierte sich Gertraude ehrenamtlich im Vorstand des Bütower Heimatvereins, wie immer aktiv, passioniert und unermütlich. Angeblich war sie auch bis zu ihrem Tod glücklich mit einem anderen Mitglied des Vereins verbandelt. Sie verstarb in Berlin im Alter von 86 Jahren, ihre Schwester Ethel, die in den letzten Stunden ihres Lebens bei ihr war, berichtete sie sei bis zuletzt sehr gefasst, beinahe gut gelaunt gewesen.
Von welcher Berta Auguste Herrmann ist hier die Rede?
Von Berta Auguste Herrmann, die 1944 mit ihrem Mann von Pommern in die USA auswanderte (Detroit) oder von ihrer Schwester mit dem gleichen Namen, die 1944 aus Bütow mit ihrer Tochter Helene und ihrer Enkeltochter Marthe nach Berlin floh. Der Vater war nach der Geburt der zweiten Tochter offenbar so aufgeregt und durcheinander, dass er sie beim Standesamt unter dem gleichen Namen wie die erste Tochter eintragen ließ. Um die beiden Mädchen auseinander halten zu können, wurde die eine Auguste und die andere Berta in der Familie genannt. Beide Töchter, sowohl die in Detroit als auch die in Berlin nannten sich später immer Berta Auguste.
Erste Erinnerung von der Enkeltochter Marthe an Oma Berta Auguste Herrmann (Berlin): Eines Tages als sie um die zwanzig war, hätte ein Mann ihr mit dem Finger auf die Schulter getippt: „Dies soll min fru werde“. „Und sie wurde es auch“. ergänzte Oma Berta stolz.
Berta bekam 9 Kinder. Das erste Kind starb, dann folgten 7 Mädchen und ein Junge. Ihr erstes Enkelkind Egon war „unehelich“. Ihre Tochter Friedel lieferte ihren Sohn gleich nach der Geburt bei ihrer Mutter Berta ab, zog in eine andere Stadt und nahm eine Stelle als Apothekenhelferin an. Sie heiratete einen Bäckermeister. Seine Bedingung: keinen Kontakt zum Sohn, niemand dürfe von der unehelichen Geburt erfahren. Sie hielt sich daran. Egon durfte seine leibliche Mutter nie besuchen. Er fuhr später zu ihrer Beerdigung nach Lohne und stellte klar (was niemand in ihrem Umkreis wusste), dass er neben Hartmut, dem leiblichen Sohn aus der Ehe mit dem Bäckermeister, auch ein Sohn von ihr sei.
Berta hat zunächst gemeinsam mit ihrem Mann Eduard, die eigenen 8 Kinder und das Enkelkind Egon großgezogen. Ihr Mann Eduard starb allerdings relativ jung; er wurde nur um die 43 Jahre alt. Der Enkelsohn Egon war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt, die jüngste Tochter Ethel einige Jahre älter. Es wurde in der Nachkriegszeit viel über das Leben der Familie in Bütow erzählt, insbesondere über einzelne Familienmitglieder, vor allem die Kinder; aber nie oder selten über Oma Berta-Auguste; wie sie das geschafft haben mochte, alle Kinder z.Teil allein groß zu ziehen, wovon sie und die Kinder gelebt haben, u.s.w. Kein Thema. Bekannt war lediglich, dass Oma Berta ihren Enkel völlig ohne Widerspruch bei sich aufgenommen und großgezogen hat. Es war gar keine Frage für sie.
Marthe, die Enkeltochter von Oma Berta, erinnert sich, dass sie 1944 auf der Flucht nach Berlin neben Oma Berta in einem Zug saß. Ihre Mutter Helene wirbelte vor dem Zug herum und schmiss so viel Hausrat wie möglich in das Abteil, so dass Berta und Marthe schließlich in einem Meer von Betten um sich und anderem Hausrat saßen.
Tochter Helene war mit Fritz Herrmann (gleichen Nachnamens bei der Heirat), verheiratet. Er besaß in der Ebersstraße in Berlin-Schöneberg glücklicherweise eine eigene Wohnung, die mit 142 qm sehr groß war. Dadurch konnten in den nächsten Monaten und Jahren ab 1944 nach allmählichem Ende des zweiten Weltkriegs viele Verwandte aus Pommern dort eine Unterkunft finden: Oma Berta (starb in der Wohnung 15 Jahre später) und Egon (lebte dort ca 10 Jahre), die Schwestern Elke (blieb dort bis zu ihrem Tod mit 89 Jahren) und Gertraude (blieb mindestens 20 Jahre in der Wohnung) und die jüngste Schwester Ethel mit Ehemann Hans und Tochter Bärbel (sie blieben ca 5 Jahre in der Wohnung bis zum Studienabschluss von Hans). Nach dem Tod ihres Mannes und ihres Hundes Sissi zog Jahre später auch noch Hedwig, die älteste Tochter von Berta, mit in die Wohnung und blieb dort bis zu ihrem Tod.
Das gemeinsame Leben in der Wohnung war schwierig, vor allem in den ersten Nachkriegsjahren und dabei vor allem in den Wintermonaten. Wegen der Kälte in der Wohnung - es gab nicht genügend Kohle um die Öfen zu heizen - versammelten sich manchmal mehr als zehn Personen im kleinen Zimmer der Wohnung, bei Notbeleuchtung.
Oma Bertha teilte sich bis zu ihrem Tod (mit 80 Jahren) ein Zimmer mit ihren Töchtern Elke und Gertraude. Am Fußende im Bett von Elke lag täglich Enkeltochter Marthe, lauschte den Gesprächen der Tanten und machte ihre Schularbeiten.
Enkeltochter Marthe konnte sich später nicht daran erinnern, dass Oma Bertha je in Gegenwart ihrer Töchter etwas gesagt hat, oder dass jemand sie etwas gefragt hätte. Sie lag im Bett oder auf der Coach, völlig still und hörte nur zu. Sie hat auch nie etwas gelesen (vielleicht war sie Analphabetin?).
Ihre Tage begannen damit, dass ihre langen Haare von Tochter Helene gekämmt und zu einem Zopf geflochten wurden; wegen des Ziepens floss so manche Träne. Es hat sich in der Familie kaum jemand für Oma Berta interessiert. Alle waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt. Lediglich ihr Schwiegersohn machte gelegentlich seine Scherzchen mit ihr, was ihr gefiel.
Er nannte sie: Berta Ziglaski, geborene Dünnbier, verwitwete Gast.
Ihre Tätigkeiten waren: Tisch decken und abdecken, Geschirr spülen (die Essensreste auf den Tellern hat sie meist vorher aufgegessen), Begleitung von Enkeltochter Marthe, z.B. zu Bekannten oder in einen Park.
Dabei unterlief ihr eines Tages ein „schwerwiegender“ Fehler. Das einzige Mal, dass Enkeltochter sie als etwas störrisch erlebt hat. Sie beharrte gegenüber Marthe darauf in die falsche Straßenbahn einzusteigen. Falsche Richtung; sie fuhren bis zur Endstation und dann wieder den ganzen Weg zurück und einige Stationen weiter bis zur richtigen Zielstation. Marthe machte zuhause ´ne große Story draus, unnötigerweise. „ Sie hätte immer wieder darauf hingewiesen“, “Oma hätte nicht auf sie gehört“. Damit war Bertas „Karriere“ als Kindermädchen für alle Zeit beendet. Die pommersche Familie war immer sehr streng. Fehler wurden nicht geduldet.
Die Aufgabe der Kinderbetreuung übernahm danach Enkelsohn Egon, der zehn Jahre älter als Marthe war, vielleicht 16 oder 17 Jahre alt damals. Er ging gerne mit ihr ins Kino. Der erste Film hieß: Die Göttin des Rio Beni. War von tiefgreifender Wirkung auf Marthes Leben, die Flüsse Südamerikas faszinierten sie ein Leben lang. „Einmal den Rio (Beni oder Amazonas oder Grande oder San Franzisko, je nach dem) sehen und dann sterben“. Der zweite Film war: Verschwörung im Nordexpress. Der dritte Film war ein Unterwasserfilm, bei dem wurde Marthe schwindlig. Oma Berta ging gerne entweder mit Marthe oder allein in den Stadtpark oder in die Grünanlage in der Hauptstraße in Schöneberg. Dort erzählte sie stolz, sie hätte sieben Töchter. Welch ein Glück. Alle noch am Leben. Wie viele Mütter hätten den Tod ihrer Söhne zu beklagen, von denen viele im Krieg gefallen seien.
Dann wurde Oma krank. Rheuma. Hatte täglich große Schmerzen. Konnte kaum noch laufen. Saß täglich nur noch am Fenster und blickte raus auf die Straße. Wenn es ihr einigermaßen gut ging, sang sie Lieder: „Siehst du wohl da kimmt er, lange Schritte nimmt er. Siehst du wohl da kimmt er schon der versoffene Schwiegersohn“, oder: „Der treue Husar“, oder: Mariechen saß weinend im Garten“. Von ihren Sprüchen in plattdeutsch konnte sich Marthe noch an folgenden erinnern: „Wenn hi ein Pott med Bohnen steit und do ein Pott med Brüh, do loss ik Pott med Bohnen stein un danz med min Marie…… # Mit fortgeschrittenem Alter nahmen ihre Rheumaschmerzen zu. Sie war oft sehr unglücklich darüber, wollte deshalb sterben. Oft wiederholte sich das gleiche Ritual. Wenn Oma sagte, sie wollte sterben, rannte Marthe in die Küche. Tat Puderzucker auf einen Löffel und sagte: „Komm iss, dann bist du weg“. Oma wollte nicht. Wenn Oma sagte, ich will auf den Friedhof“ rannte Marthe in den Flur und holte ihren Mantel. „Komm Oma wir gehen zum Friedhof.“
Eines Nachts gab es ein leises Blub. Und Oma war weg. Wenigstens ein schmerzloser, fast unbemerkter Tod.
Berta war ihr Leben lang gutmütig, geduldig, nie ein aggressives Wort, still, lieb und fleißig. Also alles wo man/frau sagte : lieb und dumm eben.
Niemand in der Familie interessierte sich sonderlich für sie oder nahm an ihrem Schicksal Anteil. Außer Egon. Marthe war erstaunt, dass er bei ihrer Beerdigung so herzzerreißend weinte. Wenigstens er wusste, was und wieviel sie für ihn getan hatte. Sie war seine „wirkliche“ Mutter. Was wäre aus ihm geworden, wenn…
Bewegtes aus dem Leben von Rhea Gilder Das Eintauchen in den fremden Kulturkreis des Orients bedeutete für Rhea Gilder mit ihren Worten das „Abenteuer pur“. Es war das Jahr 1963. Rhea war damals gerade zweiundzwanzig Jahre alt. Nach dem mehrsemestrigen Studium politischer und sozialer Wissenschaften sowie islamischer Kunst und Geschichte an der Universität Hamburg, einigen Vorlesungen an der Katholischen Universität (KU) in Leuven in Belgien in „sciences po“ und einer Volontärzeit bei einer Hamburger Tageszeitung bekam sie von der politischen Redaktion ihrer Zeitung den Auftrag als Berichterstatterin im Libanon tätig zu werden. Begeistert und unerschrocken machte sie sich sofort auf den Weg nach Beirut. Das Land, insbesondere das pulsierende Leben in Beirut, gefiel ihr auf Anhieb so gut, dass sie sich wenige Wochen nach ihrer Ankunft an der berühmten libanesischen Jesuitenuniversität St. Joseph in Beirut, einer „Schwester-universität“ der KU-Leuven, einschreiben ließ mit dem Berufsziel Journalistik. Mit dem Kennenlernen ihres späteren Ehemannes erfolgte schließlich ein tiefgreifender Bruch in ihrem Lebensszenario. Es hat mich immer fasziniert, wie sie es geschafft hat quasi von heute auf morgen die Zelte aus einem anscheinend glücklichen und erfolgreichen Leben in der westlichen Welt abzubrechen, um in eine vollkommen fremde Welt des Orients einzutauchen. Welcher Mut und welche Entschlossenheit müssen hierfür notwendig gewesen sein! Ihr arabischer Freund und späterer Ehemann war ein in Jerusalem gebürtiger Palästinenser, stammte aus einer reichen Jerusalemer Kaufmannsfamilie und gehörte der griechisch-orthodoxen Kirche an. Als sie ihn kennenlernte war er bereits libanesischer Staatsbürger und hatte sich im Libanon ein erfolgreiches Bauunternehmen aufgebaut. Die Ehe mit ihm bot ihr zweifellos einen gewissen Schutz in einer libanesischen Clangesellschaft, den sie als alleingestellte junge Ausländerin nicht gehabt hätte, wenn sie denn die Absicht gehabt hätte ihr Leben im Libanon zu verbringen. Allerdings war das Leben mit ihm im Libanon von Anfang an nicht einfach. Weniger wegen kultureller oder religiöser Differenzen zwischen ihr und ihrem Mann selber. Problematisch waren seine kulturell und religiöse Zugehörigkeit, die sie zu einer bevölkerungsmäßigen Minderheit im Libanon machten. Das bekam sie in Zeiten der Bürgerkriege im Libanon, die um ca 1975 begannen, mehr als deutlich zu spüren.
Aber zunächst verliefen die ersten Jahre ihres Lebens im Libanon noch weitgehend in Ruhe und traditionellen Bahnen. Ihr Mann war als erfolgreicher Bauunternehmer tätig, wodurch sie in einem gewissen Wohlstand lebten. Rhea bekam in kurzen Abständen drei Kinder, mit denen sie zunächst alle Hände voll zu tun hatte. Bald nahm sie allerdings freiberuflich eine Tätigkeit als Redakteurin für ein Wochenmagazin auf, betätigte sich ehrenamtlich in diversen Vereinen und gründete schließlich eine Vereinigung deutschsprachiger Frauen im Libanon.
Die religiösen Differenzen im Land mündeten schließlich in den zunehmenden Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die gegenseitige Metzeleien, Morde, Plündern und Brandschatzen zur Folge hatten. Sie waren vor allem für religiöse Minderheiten, der ja Rheas Mann als gebürtiger Palästinenser im Libanon angehörte, bedrohlich, auch wenn er aus freien Stücken in den Libanon ausgewandert war und kein Muslime war. Der anfängliche palästinensische Widerstand auf libanesischem Boden gegen die Bedrohung durch das Militär ihres Gastlandes wurde im Jahr 1982 endgültig erstickt als etwa 150 libanesische Milizionäre die palästinensischen Flüchtlingslager im südlichen Stadtgebiet von Beirut stürmten und Hunderte bis Tausende von palästinensischen Flüchtlingen, meist Zivilisten, verstümmelten, vergewaltigten oder töteten (bekannt als Massaker von Sabra und Schatila). Wer sich auf eigene Faust in Sicherheit bringen wollte wurde oftmals Opfer einer zunehmend hasserfüllten libanesischen Bevölkerung. Rhea trat die Flucht mit ihrem Mann und den Kindern ins Ausland an als zum wiederholten Male ein Bombenhagel in verschiedenen Wohnvierteln begann und ein deutscher Nachbar vom Balkon geschossen wurde. Auf einem Frachtschiff gelang ihnen die Flucht aus dem nördlichen Tripoli hin zum saudischen Djiddah. Ihr Mann konnte dort bald Fuß fassen und siedelte sein Bauunternehmen zumindest vorübergehend dorthin um.
Eine kurze Pause in den Bürgerkriegswirren erschien Rheas Mann irrtümlich als Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen, so dass es ihn mit Familie zurück nach Beirut zog. Von da an begann für Rheas Familie eine fast jährliche Pendelei zwischen Beirut, Djiddah und Deutschland, die zeitweilig sogar die vorübergehende Unterbringung ihrer drei Kinder in einem Internat erforderte. Da sie ihre Kinder dort nur selten besuchen konnte, zeitweilig hatte sie sogar Hausverbot, da sie angeblich ihre Kinder zu sehr mit Geschenken verwöhnte, war das Leben für sie in dieser Zeit eine einzige Katastrophe.
Die folgende Bürgerkriegsperiode war insgesamt durch eine ganze Reihe dramatischer und unmittelbar lebensgefährlicher Situationen für sie und ihre Familie gekennzeichnet. Einem Beschuss durch Raketen entkam sie z.B. knapp durch Zufall. An jedem Checkpoint erwies sich der libanesische Pass ihres Mannes durch die Eintragung seines Geburtsortes Jerusalem von diskriminierender Wirkung.
1983 erschien schließlich Rhea eine zunächst als vorläufig geplante Rückkehr nach Deutschland in ihre Heimat unumgänglich. Damit begann für sie teilweise über Jahrzehnte hinaus ein vielseitiges Spektrum an journalistischen, politischen und ehrenamtlichen Aktivitäten. Um nur einige Tätigkeits-schwerpunkte zu nennen.
Sie heuerte bei verschiedenen Zeitungen sowie beim WDR als freie Mitarbeiterin an. Ihre freiberufliche Tätigkeit als Auslandskorrespondentin und Kriegsberichterstatterin brachte sie in viele interessante Länder des Orients und bescherte ihr zahlreiche Begegnungen mit prominenten arabischen Führern. In ihrer Heimatstadt erhielt sie den Auftrag ein Konzept für eine bessere Integration arabischer Asylbewerber zu entwickeln. Als eine auf fünf Jahre in ihrem Ruhrkreis gewählte Vertreterin einer europäischen Abgeordneten war sie vor allem im Bereich Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik und der Verhinderung von bewaffneten Konflikten tätig, die ihr u.a. auch mannigfaltige Gelegenheiten brachten, sich in die deutschen Friedensbemühungen im Nahen Osten einzubringen. Zum Abbruch ihrer politischen Karriere kam es Mitte bis Ende der neunziger Jahren durch die tragische Erkrankung ihres geliebten Mannes; den jahrelangen unermüdlichen Kampf dagegen verloren sie schließlich Mitte des Jahres 2000 endgültig.
In den Jahren danach ist besonders ihre ehrenamtliche Arbeit als Vorsitzende einer Menschenrechtsorganisation, der Internationalen Frauenförderation für Menschlichkeit und Frieden e.V., ihr politisches Engagement für diverse internationale Selbsthilfe-Nichtregierungsorganisationen u.a. mit dem Fokus auf die Verhinderung von Fluchtursachen sowie ihre journalistische und schriftstellerische Arbeit hervorzuheben.
(mit Auszügen aus dem Buch: Eine Kriegsberichterstatterin im Nahen Osten) „Natürlich sind Sie uns auch weiterhin herzlich willkommen“ sagte der Scheich, „aber Sie wären dann genau wie wir in permanenter Lebensgefahr. Machen Sie sich da besser keine Illusionen“. „Wir sind jetzt einmal hier und wir haben schon lange auf die Gelegenheit gewartet, die Kampfeinsätze der Hisbollahs im libanesischen Grenzgebiet journalistisch zu begleiten und Illusionen hatten wir von Anfang an nicht“, antwortet ihm mein Freund Bob, Chef vom Dienst eines überregionalen arabischen Wochenmagazins.
Dabei bringt er es doch tatsächlich fertig, fast verschlafen auszusehen, obwohl er innerlich schon ganz aufgeregt ist. Klar ist, die Guerillas sind jetzt zu allem entschlossen. Wir befinden uns hier nicht in einer Art touristischem Disneyprogramm in Guerilla Country. Für weitere Überlegungen bleibt keine Zeit mehr. Schon geht es so gebückt wie möglich unter der Führung eines Guerillero einen schmalen Pfad in die Felswand hinauf. Eigentlich sollten wir, eine kleine Gruppe von 5 Personen, einen Abstand von mindestens zehn Meter zwischen uns halten, aber eine offenbar uns allen eigene unbestimmte Angst lässt uns auf wenige Meter voneinander aufschließen.
Ich selbst habe große Mühe mit meinen normalen Straßenschuhen in dem Geröll nicht ins Rutschen zu kommen. Da ich als Erste im Gänsemarsch unserem Guerillero folge, muss er sich mit sichtlichen Zeichen der Ungeduld seine Geschwindigkeit immer wieder der meinigen anpassen.
Nach etwa vierzig Metern Kletterstrecke verbreitert sich der Pfad und führt in einer scharfen Kurve den Berg hinauf. Er ist hier bewachsen mit einer Ginsterart und dicht eingegrenzt von halbhohen Weißdornbüschen. Und diese retten uns vermutlich das Leben. Denn plötzlich erzittert die Luft von einem ungeheuren Hubschraubergeknatter nicht weit unter uns und wir werfen uns wie auf Kommando in den Schatten dieser Sträucher. Da sind die Hubschrauber schon ganz in unserer Nähe, halten sich erschreckend lange auf unserer Höhe, senken sich dann plötzlich weiter hinab , wodurch wir ihrem Blickwinkel wieder vollständig entzogen sind.
Das war knapp meint mein Freund Bob. Uns ist aber klar, die Gefahr ist noch nicht gebannt. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ohne eine ersehnte Pause, die Felsen hinaufzujagen, wo kaum noch ein Strauch uns irgendwelchen Sichtschutz bieten könnte.
Nach wenigen Metern lassen wir uns im Schatten hoch aufragender Felswände erschöpft nieder. „Die Hubschrauber der Israelis werden gleich wieder hier sein“, wendet sich unser Guerillero-Wegführer an meinen Freund Bob. Wir können hier nicht bleiben. Es gibt hier nirgends einen Sichtschutz. Sie können uns hier abknallen wie die Hasen, einen nach dem anderen“. In erstaunlicher Eintracht beeilen wir uns nun unter Einsatz aller Kräfte ihm nachzufolgen. Schließlich erreichen wir einen spektakulären Felsdurchgang, dessen glatte Wände sich über uns immer mal wieder dramatisch zusammenschließen. Ich mache im Laufschritt rasch einige Fotos, beeile mich aber dennoch so gut es geht mit der Gruppe Schritt zu halten.
Der Durchgang ist mit mindestens siebenhundert Metern länger als ich erwartet habe. Er ist demnach als Fluchtweg möglicherweise brauchbarer als der Scheich uns hat glauben lassen. Als wir ihm folgen gelangen wir allerdings auf einen warm besonnten Vorplatz, der breit wie eine Hotelterrasse ist und auch als Landeplatz für einen Hubschrauber ausreichen könnte. Hier fühlen wir uns wie auf einem Präsentierteller allen möglichen und unmöglichen Verfolgern schutzlos preisgegeben. Jetzt begreife ich die Nervosität unseres Wegführers, denn von beiden Ausgängen dieses Felsdurchganges her in die Zange der Verfolger genommen, müsste jede Gegenwehr der Guerillas in Schall und Rauch ersticken, allemal wenn solch ein Rauch auch noch chemisch angereichert wäre. Uns ist sofort klar, dass wir hier so schnell wie möglich wegmüssen. Wir verschwenden kaum einen Blick an das beeindruckende Panorama der Landschaft. Der Abstieg auf dem anderen Ende des Felsdurchganges übertrifft unsere Befürchtungen noch und gestaltet sich ungleich mühevoller als der Aufstieg. Wir müssen in der Tat ein jammervolles Bild bieten wie wir da mal rutschend, mal an eben noch rechtzeitig ergriffenen Büschen oder Wurzeln schwingend Halt unter den Füßen suchen, oftmals den Abgrund vor Augen. Immer in Gefahr auf dem rollenden Gestein auszurutschen und dann unweigerlich in die Tiefe zu stürzen haben wir Journalisten genügend Gelegenheit unseren leichtfertigen Entschluss, die Guerillas auf einer ihrer geplanten Kampfaktionen zu begleiten, aus tiefstem Herzen zu bedauern. Tatsächlich sind wir auf diesem Abstiegsgelände allen Blicken sogar vom tiefen Talboden unter uns vollkommen schutzlos ausgesetzt. Niemand von uns scheint sich irgendeinem Trugschluss diesbezüglich hinzugeben. Jeder tut sein Bestes, um so schnell wie möglich auf diesem sperrigen Terrain voranzukommen. Eine einzige Tortur für Rücken und Glieder.
In der Ferne hören wir erneut Hubschraubergeräusch. Aufgeschreckt halten wir kurz inne. Aber es scheint sich eher zu entfernen als näher zu kommen, für den Augenblick jedenfalls. Wie Gejagte verlangen wir uns physische Höchstleistungen ab und schaffen es ohne größere Zwischenfälle tiefer und tiefer den Felshang hinunter, ungeachtet unserer inzwischen arg zerschundenen Hände und Füße.
Plötzlich finden wir uns auf einem kleinen Felsvorsprung wieder, der linkerseits aus einer Vertiefung, einer Felsspalte, herausragt. Aus dem Felseingang winkt uns eine Hand ins Innere. Ich ergreife die Hand und lasse mich hineinziehen. Mich überkommt sogleich ungläubiges Staunen. Ich befinde mich übergangslos in einer riesigen Höhle, die kaum mehr als solche zu bezeichnen ist und eher einer Fabrikhalle gleicht. Überall stehen Anhäufungen von Maschinenanlagen, deren Funktion mir auf Anhieb nicht ersichtlich ist, die aber jeweils umgeben sind von einer Anzahl von Guerilleros, die sie in Gang zu halten scheinen. Einige von ihnen beobachten uns neugierig, andere wiederum scheinen zu beschäftigt zu sein, um uns zu bemerken. Dafür werden wir jetzt von unserem Scheich in Empfang genommen, der uns diesmal so herzlich begrüßt, als ob wir uns seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hätten. „Hoffentlich haben Sie uns nicht auf diese Route geschickt, um unseren Durchhaltewillen zu testen?“ frage ich ihn mit unterschwelliger Empörung angesichts seines pieksauberen Habitus. Er blickt mich leicht missbilligend an: „Madame, bei aller Anerkennung für Ihren Durchhaltewillen – aber den Fluchtweg, den ich benutze, kann ich wirklich niemandem preisgeben, der nicht zu unserem harten Kern gehört. Er ist im übrigen nur kürzer, aber nicht weniger gefährlich als der, den Sie hinter sich haben, eher im Gegenteil“. Dabei lacht er breit und freundlich. Ein erstaunlicher Mann, fürwahr!
„Sie müssen sich jetzt entscheiden“, fährt er fort. Es geht um die Teilnahme an einer großen Aktion, deretwegen wir Herrn Bob A. eigentlich auch hergebeten haben: ein Angriff unserer Kamikaze -Einheit auf den Stützpunkt der südlibanesischen Armee Burg Beaufort“. Mir fällt ein: Beaufort ist die gewaltige Ruine einer Kreuzritterburg. Sie diente in den rund 900 Jahren ihrer Existenz wechselnden Kriegsherren als fast uneinnehmbares Refugium und als Ausgangspunkt für zahlreiche epochale Eroberungszüge. „Ich hoffe, Sie wissen worauf Sie sich einlassen bei dieser Beaufort-Aktion. Wir möchten Sie nicht verschrecken, Madame, wir brauchen Leute wie Sie“ meint schließlich der Scheich, nachdem ich meine Bereitschaft zur Teilnahme signalisiert habe. Kurze Zeit später lädt er mich zu einer Tasse Kaffee in einen abgetrennten Nebenraum ein. Hier befindet sich ein bazarartiges Kampfbekleidungs-und Waffenlager. Während er sich selbst gelenkig auf einem Stapel Decken niederlässt, muss ich, um ihm gegenüber sitzen zu können, auf einer Kiste Platz nehmen, über deren Inhalt ich mich keinem Zweifel hinzugeben brauche. Leider kommen kurze Zeit später vier oder fünf Bewaffnete herein und verlangen seine volle Aufmerksamkeit. Ausgerechnet die Kiste, auf der ich sitze, wird nun gebraucht, und dummerweise kommt mein Aufstehen auch einer momentanen Verabschiedung gleich. Meine Reisegefährten haben sich draußen zusammengefunden und Bob empfängt mich mit patronisierendem Kopfschütteln, auf das ich in der Regel sofort allergisch reagiere. „Ihr seid doch alle gleich, Ihr Ausländer. Kleine Alleingänge zur Sicherung der Exklusivität, wie ?“ Ich ziehe es vor, diesmal mit einer Geste gutmütiger Resignation solchen nicht ungewöhnlichen Vorwürfen der Berufskonkurrenz die Schärfe zu nehmen, ausnahmsweise. „Ein Tässchen Kaffee in Ehren“, spöttle ich ihn an und nehme zugleich wahr, dass ich selbigen gar nicht bekommen habe. „Ich habe den Eindruck, die Jungs besprechen da drinnen Kampfstrategien. Dabei habe ich sie höflich allein gelassen. Schließlich sollen sie nicht den Eindruck haben, ich sei hier als Spitzel unterwegs.“ Bob wirft mir einen zweifenden, jedoch auch amüsierten Blick zu, sagt aber nichts weiter.
Der Scheich kürzt unseren kleinen Disput in diesem Moment eh ab und winkt uns zu sich. Er verteilt Teegläser und macht Anstalten mich in die Planungsbesprechung einzubeziehen.
„Unseren Plan haben wir den Israelis abgeguckt“. Er lächelt verhalten. Deswegen bin ich ziemlich sicher, dass er auch gelingt. Er basiert auf dem Prinzip des Trojanischen Pferdes, das werden Sie ja kennen“, und auf meine erstaunte Reaktion hin feixt er mich fast kumpelhaft an. Sie werden es schon merken, wenn es soweit ist. Auf jeden Fall werden Sie eine aktive Rolle haben bei der Attacke auf Beaufort, wir brauchen Sie als Statisten“.
„Aktive Rolle“. Ein heftiger Schreck durchführt mich sogleich. „Oh Gott, sie haben wohl nicht vor, uns im Bauch einer Attrappe ins feindliche Lager hineinzuschmuggeln?“ frage ich zurück, und es gelingt mir nicht einmal ansatzweise, meinen Vorbehalt mit Ironie zu neutralisieren. Mit schwant nichts Gutes. Bob, der offenbar schon über die geplante Aktion informiert ist, legt seinen Arm fest um meine Schulter, als wolle er mich an weiterem Einspruch hindern, und meint beschwichtigend: „Aber Fahrrad fahren kannst du doch ?“.
Der Plan unserer Involvierung ist dann in der Tat so raffiniert wie gefährlich, widerspricht aber vor allem diametral meinen berufsethischen Grundsätzen, nämlich bei all meinen Reportagen in Krisengebieten immer auf dem Neutralitätsprinzip zu bestehen, es sei denn, dass eine unverzichtbare humanitäre Beteiligung dieses Prinzip außer Kraft setzen würde. Mitgefangen ist mitgehangen, geht es mir durch den Kopf. Für Ausbruchspläne ist es jetzt eh zu spät.
Offenbar hat meine Begeisterung über eine mögliche sensationelle Berichterstattung mich jede Vorsicht und den letzten Fetzen regulären Verstandes vergessen lassen. Und jetzt ist mir richtiggehend übel vor Angst und schlechtem Gewissen. Dennoch hänge ich keine zehn Minuten später angstvoll zwischen Himmel und Erde, als unsere Gruppe den Pfad in der Felsenrille um unseren Felsen herum im Mondschein ertasten muss, um wohl oder übel in die Tiefe zu gelangen. Meine Tasche habe ich zurücklassen müssen, dafür hat man mir zwei flache Rucksäcke übergeschnallt, die bei der Kletterei nicht hinderlich sein würden. Wir hatten uns nicht schwarz bemalen müssen, wofür ich dankbar bin. Allerdings hat man mir halbhohe Turnschuhe verordnet, weil meine Straßenschuhe bei unserer Mission vollkommen deplatziert gewesen wären. Meine kleine Spezialkamera trage ich in einem Brustbeutel sicher am Körper.
Die bergsteigerische Bewältigung unserer Pfadrille war fünf -oder sechshundert Meter lang ein durch die Dunkelheit noch gesteigertes reines Himmelfahrtsunternehmen. Während ich zunehmend am ganzen Körper zu zittern beginne, verkrampfe ich mich bei meinen wahllosen Halteversuchen an Wurzeln und instabilen Felskanten, die unter meinem verzweifelten Griff immer wieder zerbröseln.
Nur dem Druck der Nachfolgenden ist es zu verdanken, dass ich mich ohne Innezuhalten und fast blind durch die Lichtunterschiede weiter und weiter durch die Felsrille taste, rutsche und manchmal in Todesangst fast verzweifeln möchte, wenn noch mal eine Wurzel sich aus dem Geröll löst, an der ich eben mein Leben festmachen wollte. Erst als ich wieder festen Boden unter meinen Füßen spüre, als die Felskante vor dem Abgrund sich verbreitert und sich in niederem Buschwerk verliert, denke ich daran, was der Lohn sein würde für unsere Angst.
Durch eine vom Mondlicht mild beleuchtete felsbewürfelte Landschaft gelangen wir ins Tal, wobei wir darauf achten müssen, keine Pfadspuren zu hinterlassen. Bob bemüht sich ausnahmsweise einmal rührend um seinen kleinen Redaktionssekretär, den die Todesstrecke durch die Felsrille offensichtlich noch mehr geschockt hat als mich, vor allem weil er dabei auch noch seine Brille verloren hat. Es gibt eben immer noch eine Steigerung für Schrecken. Und auch ich habe noch lange nicht mein inneres Zittern verloren.
Schließlich stoßen wir auf zwei Männer in der gelben Uniform der libanesischen Straßenbaubehörde, die sofort mit der Entladung von Mountainbikes-Fahrädern beginnen, sobald sie unser Näherkommen registrieren. Wir steigen auf die uns zugeteilten Fahrräder und folgen der Gruppe, die sich bereits auf den Weg gemacht hat. Als seit Kindheit geübte Radfahrerin macht mir dieser Teil unserer Strecke zunächst richtig Spaß .Aber schon bald geht mir durch den Kopf, welchen Preis ich für dieses Abenteuer werde bezahlen müssen. Denn allein schon diese Fahrradnummer geht über die Grenze objektiver Berichterstattung hinaus. Auch mein deutscher Chief dürfte mit meiner allzu aktiven, wenngleich unfreiwilligen Involvierung hier seine Schwierigkeiten haben. Und bei diesem Gedanken verspüre ich schon wieder dieses innere Zittern.
Über Stock und Stein unter kunstvoller Umgehung kraterähnlicher Schlaglöcher gelangen wir schnell durch das etwa zehn Kilometer weite Tal bis zu einer baumarmen Hügellandschaft mit zumeist halbfertigen Betongebäuden. Unser erstes Etappenziel ist ein solches. Die Guerilleros werden dort zunächst in einen Waschraum gebeten, wo die rituellen Gebetswaschungen vorgenommen werden, nachdem ein Barbier ihnen die zumeist eindrucksvollen Bärte abrasiert hat, damit sie während der Vorbereitung der Kampfhandlungen nicht als Kämpfer identifizierbar sind.
Schließlich gesellt sich ein Mullah zu uns, ein älterer Mann, dessen ungeheuer schwarzer Turban über seinen abstehenden Ohren in Schieflage geraten ist und an einer Seite dichtes weißes Haupthaar freigibt. Der Mullah unterrichtet uns nun darüber, dass noch eine weitere Ausländerin, eine Japanerin zu uns stoßen werde und zwar mit dem Munitionstransport und zwölf weiteren Kämpfern. Schließlich holt er eine Reihe schwarzer Stirnbänder und große Handfahnen in intensiven Rot, Grün- und Gelbtönen mit dem kalligrafischen Emblem der Guerilleros hervor und legt sie vor sich auf eine Matratze. Unvermittelt beginnt er mit näselnder Stimme eine Art Segnungszeremonie, ähnlich der, mit der der Muezzin fünfmal am Tag die Gläubigen vom Turm der Moschee herab zum Gebet ruft. Einer nach dem anderen bewegen sich die Kämpfer auf die Fahnen zu, berühren sie mit der Stirn, indem sie sich darauf niederbeugen und richten sich wieder auf, um die Hand des Geistlichen zu küssen und dann an ihre Stirn und an ihr Herz zu drücken. Jedem Einzelnen legt der Mullah daraufhin das Stirnband an und knüpft es eigens fest.
Gleich darauf hören wir Motorgeräusche und das Zuschlagen von Autotüren. Wir verlassen den Raum um die Neuankömmlinge, unter ihnen eine Japanerin, offenbar eine freiwillige Partisanin, zu begrüßen. Der Anführer der Nachhut erklärt uns in kurzen Zügen den geplanten Ablauf der Kampfhandlungen. Einige von uns, darunter Bob, George und ich werden auf unseren Bikes dem inzwischen mit Sprengstoff gefüllten Kombi folgen, ganz so, als seien wir alle auf einem gemeinsamen trekkingtripp. Gleichzeitig sollen sich Guerillos auf den umliegenden Bergrücken positionieren und bei unserem Näherkommen die Festung von allen Seiten unter Feuer nehmen. In dem Kugelhagel sollen wir auf unseren Rädern verständlicherweise zurückbleiben, während der Fahrer des Kombi bis an den Außenposten der Festung weiterfahren und dort um vermeintlichen Schutz vor den Guerilleros bitten wird. Nach dem Abstellen des Kombiwagens muss er sofort versuchen sich aus der Stacheldrahtumzäunung herauszuretten, weil die Guerillos von ihren umliegenden Stellungen aus das abgestellte Fahrzeug nach wenigen Augenblicken in Brand schießen und damit zur Explosion bringen würden.
In der allgemeinen Verwirrung sollte eine weitere Kampftruppe der Guerillos den Außenposten der Burg erklimmen, alles niedermachen, die Fahnen hissen, etliche Gebäude in die Luft jagen und dann möglichst schnell wieder hinunter zu den vorher in einem Feld verborgenen Fahrrädern gelangen, bevor die Gegenseite Zeit zu reagieren hätte. Alles weitere dann vor allem die Flucht insgesamt läge dann in unser aller persönlichem Ermessen. Einen Sammeltreffpunkt dürfe es aus Sicherheitsgründen nicht geben. „Also wenn das normalerweise der Preis ist für journalistische Frontberichte in diesen Regionen“, beschwere ich mich bei Bob, „ dann wundert es mich nicht, dass wir so selten welche zu sehen kriegen. Unmöglich finde ich vor allem dieser ungeordnete Rückzug, so eine Art letzter Befehl nach dem Motto "Rette sich wer kann". Erst rekrutieren uns die Brüder mehr oder weniger zwangsweise und dann überlassen sie uns der Vorsehung. Und erwarten hinterher eine wohlwollende Berichterstattung. Gefälligst! Das ist Fatalismus in seiner wahrhaft schönsten Form.
Bob scheint leicht zu frieren in der feuchten Morgenluft , denn er schüttelt sich und übt Laufschritt im Stand, hat dabei aber immer noch genug Luft, um mir mal richtig die Meinung zu sagen: „Ihr westlichen Westentaschenjournalisten seid irgendwie falsch gepolt. Ihr seid allzu sanft gebettet auf den Ruhekissen eures Systems. Ihr lobt Euch über den Klee in eigener Sache und euer schläfriges Publikum macht höchstens mal die Augen auf, um mitzujubeln. Dann kommt Ihr hierher, erlebt die Realität, über die ihr zum eigenen Ruhme auch berichten wollt aber dann gefällt Sie euch nicht und Ihr jammert los. Beklagt euch über unsere Prinzipienlosigkeit. Macht es Euch doch zuhause gemütlich bei Euren quotengesicherten Leibrenten und verkauft Euren Lesern oder Zuhörern immer wieder die gleichen traurigen Geschichten aus der Dritten Welt. Da können eure fetten Safarijournalisten Krokodilstränen verströmen über den Hunger in der Welt, ohne dass sie davon im geringsten betroffen sind. Toll!. Ich jedenfalls hab noch keinen von denen mal in die eigene Tasche greifen sehen, um wenigstens den Opfern zu helfen, mit deren Fotos sie hinterher das große Geld machen. Eure Prinzipien sind die der Banken und Versicherungen, mein Mädchen. Lasst uns damit in Ruhe, auf eure zumeist tendenziell gefärbten Berichte können wir hier verzichten.“
Mein beabsichtigter Protest bleibt für den Augenblick in der Luft hängen, denn der Kombifahrer besteigt nun sein Fahrzeug und wir werden aufgefordert unsere Fahrräder zu besteigen und in seinem Windschatten mitzuradeln. Scheinbar gibt jemand der Japanerin den Wink, neben mir zu bleiben, denn sie steigt irgendwann ab um auf mich zu warten und witzelt durchaus wohlwollend über meine mangelnde Kondition, als wir nebeneinander weiterfahren. „Wie sieht denn nun der genaue Plan aus“, frage ich sie. „Ich sehe hier nichts, was uns vor den Ferngläsern der Burgverteidiger verbergen könnte. „Wir wollen gleich an einer ausgemachten Stelle vier kleine Zelte aufschlagen“, gibt sie Auskunft. In der Regel lassen die Israelis so etwas nicht zu und schicken sofort einige Patrouillenfahrzeuge, um uns zu vertreiben, solange wir ihnen glaubhaft signalisieren können, dass wir Studenten sind, die hier einfach nur campen wollen. Noch bevor sie allerdings reagieren können, wird von den umliegenden Hügeln das Feuer auf sie eröffnet. Den restlichen Plan kennst du im wesentlichen. Für die Flucht ist jeder für sich selbst verantwortlich“. Wieder wird mir flau im Magen und ich spüre wie mir der Schweiß ausbricht.
Nach einer anstrengenden Fahrt bergauf erreichen wir die Berghöhe und verharren einen kurzen Augenblick, um die auf einem Bergkegel vor uns liegende Festung Beaufort in einer Entfernung von vielleicht fünfzehn Kilometern zu betrachten und die baumlose Graslandschaft davor, die wir nun zügig auf einer einspurigen Landstraße durchqueren müssen.
An einem trocknen Bachbett weniger als einen Kilometerunterhalb der Festung sind die Gotteskämpfer schon dabei, silbern glänzende Sturmzelte aufzuschlagen. Wenige Minuten später ermahnt uns ein Guerillo nicht auf die Blinkmorsezeichen zu achten, die jetzt von der Festung abgegeben werden, sondern uns mit der Vorbereitung unseres Picknicks zu beschäftigen Doch schon kurze Zeit später verwandeln die ersten Maschinengewehrsalven unser angespanntes Morgenidyll in ein Inferno. Die Japanerin schreit nun, wir sollen alle hinter dem Kombi her in Richtung Festung laufen. Die Guerillos, die vor uns laufen, tragen jeweils in der linken Hand eine runde Kugel. Einer von ihnen hat eine große Kabelrolle auf dem Rücken. Bob und ich versuchen ihnen so weit wie möglich auf den Fersen zu bleiben, wobei es mir immer wieder gelingt, die kämpfende Truppe vor mir aus der Hockstellung heraus von unten zu filmen. Das dynamische Mikrofon wird auch die Kampfgeräusche akustisch richtig wiedergeben. Je höher wir kommen, desto heftiger schlagen über uns und neben uns die Projektile ein und zwingen uns mitunter zu ganzkörperlicher Bodenhaftung, Die Gotteskämpfer schwingen nun in immer schneller werdenden kreisenden Bewegungen ihre Kugeln und lassen sie dann durch die Luft schwirren bis sie ihr Ziel innerhalb des Festungspostens erreichen und sich in einem Feuerball entladen. Es folgt Explosion auf Explosion. Plötzlich höre ich Bob aufschreien. Er hat beide Hände vors Gesicht geschlagen, und schwankt bei dem Versuch aufrecht stehen zu bleiben. Zunächst scheint alles glimpflich abgelaufen zu sein. Sein Brillengestell ist allerdings zerbrochen und Glassplitter sind über seine Kleidung verstreut. Vermutlich sind aber auch Glassplitter in sein rechtes Auge gelangt, so dass er über große Schmerzen klagt.
Jetzt hören wir plötzlich eine Art Jubelschreie. Ich habe den Eindruck, dass die Gotteskrieger den Außenposten tatsächlich überrannt haben. Ich teile meine Vermutung Bob mit und meine Absicht, dies noch filmen zu müssen. “Ich bin in wenigen Minuten zurück“, versichere ich ihm und bin erleichtert, dass Bob mich voller Verständnis aus der Pflicht, ihm beizustehen, entlässt.
Wenige Minuten später bin ich oben an der Festungsmauer angelangt, die an zwei Stellen so stark getroffen wurde, dass es mir gelingt, über die herabgefallenen Bruchsteine hinaufzuklettern. Die Einnahme des Außenpostens ist offenbar leichter gewesen, als es sich die Guerillas das vorgestellt haben, denn sie stehen ganz locker herum. Aber unvermittelt treten sie dann den Rückzug an, nachdem sie noch einige Fahnen in die zerborstenen Einschussstellen der Brüstung gesteckt haben und noch einige Gebäude zur Explosion gebracht haben. In aller Eile bemühen Bob und ich uns den Berg hinunter in die Grasfelder zu gelangen und finden schließlich nur wenige hundert Meter vom Bachbett entfernt einen Unterschlupf in Form zweier narbiger aneinandergelehnter Felsbrocken. Dort haben wir Platz genug, um einige Stunden abzuwarten bis sich die Aufregung draußen gelegt hat.
Es ist fast Mittag als wir plötzlich unter uns Stimmen hören, englische Wortbrocken. Elektrisiert richten wir uns auf und lugen Richtung dieser unverhofften Zivilisationsverheißung. Eine kleine Gruppe von Frauen und Männern stehen im ausgetrockneten Bachbett, gebeugt über irgendwas, das ihr Interesse so sehr in Anspruch nimmt, dass sie offenbar von der Problematik ihrer Umwelt noch nichts wahrgenommen haben. Das Zusammentreffen mit Zivilisten ist unsere Chance. Die Gruppe wendet sich bass erstaunt uns zu. „Wir befinden uns alle hier und jetzt in größter Lebensgefahr“ beginne ich hastig, „wir sind Jounalisten und gerieten ins Kreuzfeuer von Guerillos und Verteidigern der Burg“, behaupte ich. Seit Stunden haben wir uns hier unter diesen Felsen verborgen.
Im Augenblick ist es ruhig. Wir müssen aber sofort hier weg.“ Den Mienen unserer neuen Bekannten – einem Hochschullehrer-Ehepaar an der Universität in Beirut, in Begleitung einer Gaststudentin- ist abzulesen, dass unser abenteuerliches Äußeres nicht eben ihr Vertrauen erweckt. Dennoch sind sie zu unserer großen Erleichterung bereit, Bob und mich mit ihrem PKW, den sie am Ausgang des nächsten Dorfes abgestellt haben, auf ihrer Rückfahrt nach Beirut mitzunehmen. Bob zögert einen Augenblick, im Kampfgetümmel haben wir zu seinem größten Kummer seinen Assistenten verloren, schließlich nickt er und nimmt wie ich das Mitfahrangebot erfreut an.