Gertraude war Anfang Zwanzig als sie gemeinsam mit ihrer Schwester Elke 1945 aus Bütow Pommern Richtung Berlin zu ihrer Schwester Helene flohen. Zu Fuß. War für beide eine einzige Qual. Die Flucht dauerte rund drei Monate. Sie haben später nur selten über diese Flucht gesprochen. Sie haben beide versucht, diesen Alptraum rasch zu vergessen.
Immerhin gelang es den beiden Schwestern auf der Flucht einer Vergewaltigung durch Russen zu entgehen, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, auch aus der eigenen Familie. Eine Schwester von Oma Berta Auguste z.B. wurde nach einer Vergewaltigung schwanger. Ihr Sohn blieb ein Leben lang ein Außenseiter, eingeschüchtert und hilflos an seine Mutter geklammert. Nicht zuletzt weil er wegen seiner roten krausen Haare und seiner runden Gesichtskonturen als Abkömmling eines asiatischen Russen leicht erkennbar war und daher von seiner Umwelt abgelehnt und bespöttelt wurde. Eine Tochter der Schwester knapp zwanzig Jahre alt wurde vergewaltigt und verstarb kurz danach, vermutlich ist sie verblutet.
Gertraude und Elke erzählten später, sie hätten sich oft die Gesichter mit Modder, Dreck oder Asche eingerieben, und sich wie alte Weiber auf dem Boden oder in Raumecken hingekauerten, um einer Vergewaltigung zu entgehen. Erfolgreich. Eine andere Geschichte gab es in zwei Versionen. Ein Russe hätte sich einmal Gertraude dreist genähert. Sie gab ihm daraufhin eine Ohrfeige. Er wäre total erstarrt gewesen. Es passierte aber nichts. Diese Version wurde mit einem gewissen Stolz auf Gertraude erzählt, ihr Mut stieß in der Familie auf große Bewunderung. Jahrzehnte später kam von einer anderen Verwandten eine andere Version auf. Der Russe hätte zurückgeschlagen und ihr das Nasenbein gebrochen. Diese Geschichte glaubte Marthe zunächst nicht, allerdings hatte Gertraude immer eine leicht näselnde Stimme, vielleicht ein Tatbestand der doch für die zweite Version sprach.
Die beiden aus ihrer Heimat Pommern vertriebenen Schwestern hatten Ende des zweiten Weltkrieges insofern noch Glück als sie in der Wohnung ihrer Schwester Helene in Berlin zusammen mit ihrer Mutter Berta eine Bleibe fanden. Sie teilten sich ein Zimmer. Gertraude lebte noch rund zwanzig Jahre in dieser Wohnung, Berta rund 15 Jahre ( bis zu ihrem Tod) und Elke mehr als sechzig Jahre bis zu ihrem Tod im 89. Lebensjahr.
Gertraude fand bald nach Kriegsende eine Anstellung bei einem Zahnarzt als Zahnarzthelferin. Bezog ein sehr kleines Gehalt. (Merkwürdigerweise äußerte sie sich immer abfällig über Gewerkschaften). In der Zeit bevor sie aus Bütow vertrieben wurde, war sie noch so gut wie verlobt gewesen. Wie sie später erfuhr, war ihr Freund aber im Krieg gefallen. Sie blieb unverheiratet. Als unverheiratete Frau war sie in der Nachkriegszeit oft irgendwelchen Henseleien und Beleidigungen ausgesetzt.
Es gab für sie angesichts der beengten Wohnverhältnisse kaum die Möglichkeit fremden Besuch zu empfangen. Und wenn nur unter extrem erschwerten Bedingungen. Die Neugierde aller Familienmitglieder war groß. Henseleien über ihre „Verehrer“ an der Tagesordnung. Ihr Freund Lami wurde in der Familie beispielsweise nur “Salami“ genannt. und da waren ja noch ihre beiden Nichten in der Wohnung, die ständig rumalberten, durchs Schlüsselloch oder einen Türspalt lugten oder an der Tür lauschten.
Schlimmer war aber noch, dass die übrigen Familienmitglieder ziemlich instinkt- und herzlos, vorgeblich natürlich nur besorgt und in helfender Absicht, Gertraudes Verehrer mutwillig zu vergraulen suchten. Erfolgreich. Bei Schwester Elke noch nachvollziehbar. Nachdem ihre Ehe kurz nach Kriegsende gescheitert war und sie sich nun einsam und verlassen fühlte, fürchtete sie, sie könnte nun auch noch ihre Schwester Gertraude, mit der sie sich gut verstand, an „einen Mann verlieren“. Eigentlich wurde über alle „Verehrer“ von Gertraude hergezogen. Und natürlich war ja klar: „Der meint es doch gar nicht ernst. Der veräppelt dich doch nur. Der lässt sich doch nie und nimmer scheiden wie er behauptet und heiratet dich“. Leider war Gertraude eigentlich immer geneigt, den Worten und Einflüsterungen ihrer Schwestern zu glauben, mehr als ihrem eigenen Urteil und den Aussagen und Worten ihrer Freunde. Sie trennte sich daher meist nach kurzer Zeit von ihren „Verehrern“ und potentiellen Heiratsanwärtern (In der damaligen Zeit war für die Mädchen/Frauen aus Pommern eine Heirat das wichtigste Ziel). Herr Lami war über die Trennung so erbost, dass er Jahre später bei ihr auftauchte. Er zeigte ihr die Scheidungsurkunde (von seiner ersten Frau). Und teilte ihr mit, dass er längst wieder mit einer anderen Frau verheiratet sei.
Vielleicht hat Gertraude aus diesen Erlebnissen dazu gelernt. Sie machte Mitte vierzig eine Aus- oder Fortbildung als zahnmedizinische Fachangestellte Die anstrengenden Prüfungen haben sie zwar ziemlich mitgenommen, es hat sich aber für sie gelohnt. Sie fand danach eine gut bezahlte Anstellung in einer Zahnklinik. Sie tat sich danach mit einem rund zwanzig Jahre jüngeren Mann zusammen und zog mit ihm in eine gemeinsame Wohnung. In der damaligen Zeit äußerst ungewöhnlich. Mutig, mutig. Marthe gestand sich ein, dass sie selber sich das nicht getraut hätte. Jedenfalls wurde Gertraude danach nicht mehr durch Henseleien von der Familie gequält.
Gertraude spielte viel Lotto. Dabei gewann sie unter dem Namen ihres Freundes einmal über 300 000 DM. Sie teilten sich das Geld. Nach 12 oder 13 Jahren des Zusammenlebens wurde ihr Freund schwer krank. Im Krankenhaus erholte er sich zunächst recht gut. Einen Tag vor seinem Tod hatte sie ihn noch besucht, sie haben sich angeregt miteinander unterhalten und einige Pläne für die Zukunft gemacht (Reisen). Am nächsten Tag erhielt sie die Nachricht, dass er im Krankenhaus überraschend verstorben sei. Die Familie war einigermaßen geschockt. Sein Tod kam für sie überraschend und unerwartet. Niemand stellte über die Ursache für seinen plötzlichen Tod Nachforschungen an, Gertraude und ihre Schwestern waren wie gelähmt. Er war erst Mitte 30.
Er hatte bei seinem Tod auf seinem Konto noch Geld vom Lottogewinn. Es wurde gemunkelt, dass Gertraude dieses Geld erhalten hat. Zu dieser Geschichte gab es mehrere Versionen. Einmal hieß es, sie hätte eine Vollmacht für sein Konto über den Tod hinaus gehabt. Ein anderes Mal hieß es, der Ehemann von Helene, der bei einer Bank beschäftigt war, hätte die Überweisung des Geldes veranlasst und auf den Tag vor seinem Tod vordatiert. Auch wenn die zweite Version einigermaßen abenteuerlich und (allein schon technisch) unwahrscheinlich klang, zumal Marthe ihren Vater immer als total korrekt kannte, hätte Marthe sich unter den damaligen besonderen Umständen gefreut, wenn die zweite Version der Wahrheit entsprochen hätte. Darüber wurde in der Familie aber immer geschwiegen.
Die Reste vom Lottogewinn erlaubten es Gertraude nach dem Tod ihres Freundes jedes Jahr für einen Monat nach Rio zu ihrer Schwester Anni zu fahren. 13 Jahre lang. Dort fand sie endlich die Anerkennung, die sie bei ihrer Familie in Berlin nicht fand. War allerdings nicht ganz billig. Abgesehen von den Reisekosten gab sie ihrer Schwester für jeden Aufenthalt eine beträchtliche Summe an Geld. Ihre Reise nach Rio war manchmal aber auch hoch riskant, wenn man/frau den wilden storys darüber Glauben schenken konnte. So transferierte Gertraude angeblich einige Male für ihren Schwager (Ehemann von Schwester Anni) Geld nach Rio, das sie jeweils vorher von seinem deutschen Konto abgehoben hatte. Sie wickelte sich das Geld um den Bauch, behauptete am Flughafen sie wäre krank. Ließs sich von einem Krankenwagen vom Flugzeug abholen, nur um der Körpervisite des Zolls zu entgehen. Ziemlich wagemutig. Aber auch sehr leichtsinnig, wenn es denn überhaupt so stimmte und die Erzählung nicht reichlich übertrieben war. Fraglich ob die Bewunderung, die sie von der brasilianischen Familie dafür erfuhr, es die damit verbundenen Risiken Wert war.
In ihrem letzten Lebensjahrzehnt engagierte sich Gertraude ehrenamtlich im Vorstand des Bütower Heimatvereins, wie immer aktiv, passioniert und unermütlich. Angeblich war sie auch bis zu ihrem Tod glücklich mit einem anderen Mitglied des Vereins verbandelt. Sie verstarb in Berlin im Alter von 86 Jahren, ihre Schwester Ethel, die in den letzten Stunden ihres Lebens bei ihr war, berichtete sie sei bis zuletzt sehr gefasst, beinahe gut gelaunt gewesen.